XX.

[456] Nun kamen stillere Tage für Adam. Er ging nicht viel aus, er saß oft stundenlang auf seinem Zimmer, er spann seine losen, verzettelten Gedanken in der Sophaecke, er las dies und das ohne inneren Zwang, ohne besondere geistige Genugthuung. Der Juni war sehr heiß, trotzdem überlief Adam oft ein leises, stachliges Frösteln, besonders gegen Abend stellte sich gewöhnlich ein heftigeres Fieber ein, sein Schlaf war dünn, unruhig, von schwülen, bizarren Träumen erfüllt. Früh fühlte er sich oft matter und hinfälliger, als er den Abend vorher gewesen war. Endlich nahm er Chinin ein, da wurde es besser, das Fieber trat weniger akut auf, schließlich blieb es ganz weg.

Lydia hatte Adam bald nach ihrer Ankunft in Friedrichroda geschrieben. Er hatte den lieben, zärtlichen Brief mit seiner zartstrichigen Schrift, seinen pikanten stilistischen Inkorrektheiten, seinen versteckten Liebkosungen oft genug gelesen, wieder und wieder. Lydias Hingebung schmeichelte seiner Eitelkeit, er vergaß, welchen Umständen er schließlich ihren Besitz verdankte, es kam so weit, daß er sich unwillkürlich[457] einredete, er hätte sie sich errungen, und er war stolz auf diesen Erfolg. Aber dennoch verschob er es von Tag zu Tag, Lydia zu antworten. Dieses Hinausschieben machte ihm ein pikantes Vergnügen, gewährte ihm einen angenehm prickelnden Reiz. Hatte er erst geschrieben, so war damit auch die momentane Situation erschöpft – und der Genuß, der in dem Bewußtsein lag, daß sich Lydia um so mehr und um so intimer mit ihm beschäftigen würde, je länger seine von ihr ersehnte Erwiderung ausblieb, hörte dann auf. Vielleicht wirkte bei seinem Zögern auch mit, daß ihm das Bild seiner Braut schon ein Wenig verblaßt, daß er schon etwas in den Hintergrund getreten war, daß der Einfluß ihrer reifen Frauenschönheit unter der Trennung doch schon gelitten hatte. Er mußte sich das eingestehen und ärgerte sich darüber. Aber er konnte nichts dagegen machen. Er gab sich oft alle Mühe, Lydias Bild in Klarheit und Frische vor sein geistiges Auge zu rufen, aber es wollte ihm nicht gelingen, nur Schemen kamen und vage Andeutungen. Dann konnte er nicht begreifen, daß nun in Zukunft er ihr und sie ihm angehören sollte, daß sie Beide hingehen sollten, um sich ihren lieben Mitmenschen als ein zusammengehöriges Paar vorzustellen. Das war Alles so drollig, so wunderbar, das konnte nicht sein, das widersprach doch so ganz den Gesetzen, unter denen zu leben er sich gewöhnt hatte. Er ertappte sich auf dem Gedanken, auf dem leisen, geheimen Wunsch, daß seine Braut so lange als möglich in[458] Thüringen bleiben möchte. Er wollte sich jetzt nicht von ihr stören lassen, er gewann seine Einsamkeit täglich lieber, und doch hatte er in diesen Tagen eigentlich gar Nichts vor sich, er vegetirte mehr mechanisch dahin, als daß er bewußt lebte, als daß er jetzt eine Individualität sein durfte, die sich in ihrer reichen Subjektivität selbst genug ist.

Manchmal beunruhigte ihn das Schicksal Hedwigs doch sehr. Zuerst zuckte er bei jedem Anschlagen der Glocke zusammen, er fürchtete, der Postbote würde in sein Zimmer treten und ihm die tausend Mark zurückbringen, deren Annahme die Adressatin verweigert hätte. Aber der sonst so Willkommene blieb aus, blieb aus einen Tag nach dem anderen – und Adam war das in diesem Falle ganz recht, er beruhigte sich wieder. Hedwig hatte das Geld also angenommen, ihre Lage hatte sie wohl dazu gezwungen, aber warum sollte er Bedenken tragen, sein Thun als eine Art von Sühne aufzufassen? Es ist ja nun einmal so auf der Welt, daß seelische Verletzungen durch materielle Bußacte wieder ausgeglichen werden können. Und doch kam ihm der Gedanke an den Tod Irmers immer wieder, er vermied es mit ängstlicher Scheu, eine Zeitung zur Hand zu nehmen, in der er etwa eine Notiz darüber finden konnte. Irmers Brief, den er in einer besonders nervösen Stunde aufgebrochen und in zitternder Hast flüchtig überflogen hatte, nachdem er ihn schon unzählige Male in Händen gehabt, aber stets wieder bei Seite gelegt, hatte er sofort verbrannt.[459] Er hatte ihn los sein wollen ... und triumphirend hatte er vor dem Häuschen Asche gestanden, die von ihm noch übrig geblieben war. In einer stillen Sommernachtsstunde hatte er sich weit zum Fenster hinausgelehnt ... und die Asche in alle Winde verstreut ... Und doch blieb eine Stelle des letzten Vermächtnisses Irmers hasten in seinem Gedächtniß, sie tauchte immer wieder auf, mochte er sie auch mit aller Gewalt niederdrücken und zurückdrängen, sie kamen wieder, immer wieder, jene ernsten, schweren, beschwörenden Worte: »– Ich lasse mein Kind in Ihren Händen zurück, Herr Doctor – und ich weiß, Sie werden niemals vergessen, was sie ihm schuldig sind. Ich vertraue Ihnen und sterbe ruhig – –« Adam sagte sich ganz klar, daß er Hedwig gegenüber eine Schurkerei begangen, wenigstens eine Schurkerei im Sinne der gültigen Moral der Masse, er fand schließlich auch »höhere« ethische Gesichtspunkte, die ihn trösteten und freisprachen, aber es fruchtete wenig, das Neue war noch zu dunkel in ihm, noch zu theoretisch, zu vergeistigt, die alten thörichten Katechismusgefühle waren doch noch zu stark. Und sie klagten ihn Tag für Tag aufs Neue an. Nein! wenn Hedwig noch einmal in sein Leben träte, wollte er nicht zurückweichen vor ihr. Sie aber aufzusuchen – dazu hatte er nicht die Kraft und nicht den Muth. Und dann auch: sie verachtete ihn gewiß schon so sehr, daß sie seine Nähe gar nicht ertragen würde. Was sollte er also sie und sich quälen–? Es war überflüssig. –[460]

Einmal dachte Adam auch an den Selbstmord. Das war zu komisch. Hatte er denn ganz vergessen, daß er zum Leben »verurtheilt« war? Hatte er das nur einen Augenblick vergessen können –? Ja! Es war doch möglich gewesen. Merkwürdig! Merkwürdig! Oh! Und er besaß ja nicht einmal mehr die Größe und die Gewalt der Seele, die schmerzlich süßen Wollustschauer eines Galaselbstmords genießen zu können. Das kritische Delirium hatte Alles zermalmt, Alles, Alles. Ja! Ja! das war das curiose Märchen von der Analyse und von der Synthese, die sich so gut zu vertragen wissen ... Adam lächelte. Das Leben hatte ihn wieder. –

Eines Morgens fühlte er sich besonders behaglich. Er hatte gut, besser wenigstens, denn gewöhnlich, geschlafen, schleimige Träume hatten ihn verschont, er fühlte sich stärker, freier, flüssiger, auf das Spiel der Menschen und Dinge ... und auf das Mitspielen gestimmter. Er trank seinen Kaffee und rauchte mit großem Genuß seine Morgencigarette. Er lehnte sich zurück und dachte an Lydia. Er nahm sich vor, ihr heute zu schreiben, ganz bestimmt zu schreiben, sie könnte sonst leicht auf allerlei Gedanken kommen – und das hatte sicher seine Schattenseiten und Nachtheile für ihn. Er verdankte ihr doch eigentlich recht Viel, es wäre barbarisch dumm gewesen, leichtsinnig wieder fahren zu lassen, was sie ihm aus Liebe entgegengebracht. Ja! Nun er sich zum ersten Male wieder werkthätiger aufgelegt fühlte, fand er seine Bräutigamsschast äußerst famos und praktisch. Es[461] ist gut, wenn der Mensch eine »reiche Partie« macht. Adam wurde mit der Partie, die er gemacht hatte, immer einverstandener. Er nahm sich vor, unter der Hand bei einem kaufmännischen Auskunftsbureau einmal genauer nach den Vermögensverhältnissen Lydias zu recherchiren – das war doch sehr von Belang für ihn. In den letzten Tagen war ihm überdies öfter ein Gedanke zurückgekehrt, mit dem er schon vor Jahren gespielt, der sich aber wieder verflüchtigt hatte, weil damals zu seiner Verwirklichung blutwenig Aussicht, weil blutwenig Material vorhanden gewesen war. Nun stand die Sache scholl anders. Jetzt durfte er schon mit größerem Rechte an sein geliebtes »Paedagogium der Zukunft« denken. Und Adam beschloß, sich, demnächst einmal ernstlich daran zu machen, die Grundprincipien dieses seines »Paedagogiums der Zukunft« zu entwerfen. –

Auf die Tage der äußeren und inneren Stürme und Katastrophen sollten die Tage ernster, gesammelter, »sühnender« Arbeit folgen. Ja! Er wollte arbeiten, besaß er doch noch Ideale! Vielleicht noch zwei, viel leicht sogar noch drei, vielleicht auch nur noch eins. Er vermied es, sich zu fragen, wie dieses eine, dieses letzte »Ideal« hieße, wie es beschaffen wäre, in welcher Richtung es läge –? Er wußte, daß er diese Frage vermied, und das beunruhigte ihn. Und doch freute es ihn zugleich, daß er sich überhaupt noch entschließen konnte, im Dienste eines »Ideals« zu arbeiten. Ja! Er wolle arbeiten. Und war das im tiefsten Grunde auch nur eine[462] Resignation – schließlich bedeutete dieser Entschluß doch auch eine Hoffnung auf die Zukunft und eine Bürgschaft für die Zukunft. Adam zweifelte daran wenigstens nur dann und wann.

Im Uebrigen wurde er von Tag zu Tag mehr und mehr guter Dinge. Er kostete die kargen, letzten Zeitläufte seiner »Freiheit« in sanfter Behaglichkeit aus. Der Sommer war so schön, die Rosen blühten, bald mußte es auch Levkojen und Reseda geben. Und sonst – »na! Ick bin ja man ooch bloß in absentia uff der Welt« – tröstete sich Adam – der brave Klempnergeselle behielt doch Recht.

»Auf welcher Welt werden wir einmal nicht ›in absentia‹ dasein –?«

Adam hatte gut fragen. Die Antwort war ihm ja doch furchtbar schnuppe. –


Ende.[463]

Quelle:
Hermann Conradi: Adam Mensch. Leipzig [1889], S. 456-464.
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