Der Müllerin Reue

[136] Jüngling


Nur fort, du braune Hexe! fort

Aus meinem gereinigten Hause,

Daß ich dich, nach dem ernsten Wort,

Nicht zause!

Was singst du hier für Heuchelei

Von Lieb und stiller Mädchentreu?

Wer mag das Märchen hören!


Zigeunerin


Ich singe von des Mädchens Reu

Und langem, heißem Sehnen;

Denn Leichtsinn wandelte sich in Treu

Und Tränen.

Sie fürchtet der Mutter Drohen nicht mehr,

Sie fürchtet des Bruders Faust nicht so sehr

Als den Haß des herzlich Geliebten.


Jüngling


Von Eigennutz sing und von Verrat,

Von Mord und diebischem Rauben;

Man wird dir jede falsche Tat

Wohl glauben.

Wenn sie Beute verteilt, Gewand und Gut

Schlimmer, als je ihr Zigeuner tut,

Das sind gewohnte Geschichten.


Zigeunerin


»Ach! weh! ach weh! Was hab ich getan!

Was hilft mir nun das Lauschen!

Ich hör an meine Kammer heran

Ihn rauschen.[136]

Da klopfte mir hoch das Herz, ich dacht:

O hättest du doch die Liebesnacht

Der Mutter nicht verraten!«


Jüngling


Ach leider trat ich auch einst hinein

Und ging verführt im stillen:

»Ach Süßchen! laß mich zu dir ein

Mit Willen!«

Doch gleich entstand ein Lärm und Geschrei;

Es rannten die tollen Verwandten herbei.

Noch siedet das Blut mir im Leibe.


Zigeunerin


»Kommt nun dieselbige Stunde zurück,

Wie still mich's kränket und schmerzet!

Ich habe das nahe, das einzige Glück

Verscherzet.

Ich armes Mädchen, ich war zu jung!

Es war mein Bruder verrucht genung,

So schlecht an dem Liebsten zu handeln.«


Der Dichter


So ging das schwarze Weib in das Haus,

In den Hof zur springenden Quelle;

Sie wusch sich heftig die Augen aus,

Und helle

Ward Aug und Gesicht, und weiß und klar

Stellt sich die schöne Müllerin dar

Dem erstaunt-erzürnten Knaben.


Müllerin


Ich fürchte fürwahr dein erzürnt Gesicht,

Du Süßes, Schöner und Trauter!

Und Schläg und Messerstiche nicht;

Nur lauter[137]

Sag ich von Schmerz und Liebe dir

Und will zu deinen Füßen hier

Nun leben oder auch sterben.


Jüngling


O Neigung, sage, wie hast du so tief

Im Herzen dich verstecket?

Wer hat dich, die verborgen schlief,

Gewecket?

Ach Liebe, du wohl unsterblich bist!

Nicht kann Verrat und hämische List

Dein göttlich Leben töten.


Müllerin


Liebst du mich noch so hoch und sehr,

Wie du mir sonst geschworen,

So ist uns beiden auch nichts mehr

Verloren.

Nimm hin das vielgeliebte Weib!

Den jungen, unberührten Leib,

Es ist nun alles dein eigen!


Beide


Nun, Sonne, gehe hinab und hinauf!

Ihr Sterne, leuchtet und dunkelt!

Es geht ein Liebesgestirn mir auf

Und funkelt.

Solange die Quelle springt und rinnt,

So lange bleiben wir gleichgesinnt,

Eins an des andern Herzen.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 136-138.
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