Andenken an meinen ersten Todten,

das Liebste, was ich auf dieser Welt verloren

[49] Früh ich einst den Bruder sah

Mit dem Tod umfangen!

Augen brechend lag er da,

Seine Rosenwangen

Schon Ebenbild des Todes!

Im kalten Schweiß, mit kalter Hand,

Da schon alle Welt ihm schwand,

Da sucht', da nannt' er mich!

Hob Aengste lächelnd sich:

»Du auch, Bruder, Du willst mich verlassen?«

Ach, starrte mich an,

Sank mir in die Arme.

Bruderarmen kam der Tod,

Ihn wegzuholen.

Wo, o süßer Knabe, wo

Bist Du hingeschieden?

Blühtest, Rosenknospe, mir –

Nun verwelkt hienieden.

Hienieden nur erschienen

Wie Sonnenblick, wie Morgenstrahl

In des Wandrers dunkelm Thal.

Dein Geist, das Morgenroth!

Dein schönes Herz! – der Tod

Hat den Rosenknaben mir zerstöret!

Bist kalt wie das Grab,

Todebleicher Erdkloß.[49]

Ach, des Lebens sanfter Strom

Ist starr erloschen.

Kalter Knabe! Bruder, nicht

Ewig mir verloren!

Holdes Wahnbild! ach, wozu,

Wozu schmerzgeboren

Hier auf die Schattenerde?

Auf meinen Knieen flossen Dir

Frühe zarte Thränen hier!

Wozu sind sie verweint?

Du Traumbild! Schattenfreund!

Schattenrose, mir nur vorgespiegelt!

Wirst Erde bald sein –

Handvoll stumme Erde!

Gott, o Gott, wie trügst Du uns

Mit Wonn' im Leben.

Lebenswonn' und alle Lust,

Nichts ist selbst das Leben!

Schatten auf den Wogen her

Kommen wir und schweben –

Wohin? – Ach, holder Knabe!

Sie sangen Dir in Todespein,

Sangen Labungston Dir ein:

»Zu Christ, dem Bruder mein,

Zum Himmel schlaf' ich ein!«

Da riß sich sein letzter Blick gen Himmel.

Wo wandelst Du nun?

Selige Erscheinung,

Kommst Du, wenn mein Blick einst bricht,

Mich heimzuholen?


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 49-50.
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