Die Eiche

[70] Fragment. Aus dem Italienischen.


Wie wenn die Eiche, die Jahrhunderte

Auf ihrem Berge tiefe Wurzel schlug

Und bot die Stirn den Winden und dem Sturm,

Wenn ringsum er die Flügel auf sie schlug;


Erschüttert und entrissen liegt sie itzt

Von Schicksals Stürmen und den Jahren, misset weit

Umher das Land mit ihrem mächt'gen Arm,

Bedeckt den Boden weit mit dickem Haar.


Da kommet denn das tapfre Bauernvolk

Aus Höhlen und aus Hütten, hauet kühn

Ihm ab die Glieder, kappet ihm das Haupt,
[70]

Zerfällt den ungemessnen starken Stamm

Und haut und haut, daß rings der Berg erbebt,

Und jede Kluft und Höhle widerhallt.


Demüthig rollt der Arme jetzt hinab;

Zerschlagen trägt man auf den Schultern ihn

Und lacht des Stolzes seiner alten Höh'. – –


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 70-71.
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