Der erste Nachtigallen-Ausflug

[376] Ein Kinderlied.


Der Tag kaum durch die Wolken drang,

Als schon die junge Nachtigall

Im Neste zarten Flügel schwang

Und sang mit Freudeschall:


»Heran, willkommen, schöner Tag,

Der endlich mich ins Freie ruft,

Mir endlich, die so lang' hier lag,

Zuerst verleihet Luft!


Werd' heut zuerst die Welt durchwehn

Und singen hoch auf freiem Baum,

Viel neuer Art Gespielen sehn

Und neuen Wunderraum.«


»Trau nicht,« sprach Mutter Nachtigall,

»Trau nicht, o Kind, dem Wunderraum!

Es giebt auch treulos süßen Schall

Und Körnchen unterm Baum,


Die uns ein Volk hinstreuet klug

Und trüglich singt als Nachtigall,

Streut Körner aus voll List und Trug

Und lockt mit süßem Schall


Und macht uns Fuß und Flügel fest

Und dann uns ein in Kerker schließt,

In Kerker, mehr als Kluft und Nest,

Als Winter ärger ist.


Bist da in Wüsten, Fels und Stein,

Bist schwester-, gatte-, mutterlos,

Siehst keinen Baum, siehst keinen Hain –

Und schmuck- und federlos;


Die Stimme stirbt Dir, Lied und Schall,

Schwingst nie die freien Flügel mehr!«[376]

»Ach Mutter!« sprach die Nachtigall,

»Du zögerst auch zu sehr!


Bin ja kein Kind mehr, bin so klug

Als jede, jede Nachtigall.«

»Beginn nur, Liebe, Deinen Flug!«

Und schlug mit Freudenschall


Die Flügel! »Nur entferne nie,

Entfern, o Kind, Dich nie von mir!«

Sie flog: die junge Neugier, sie

Flog kaum noch hinter ihr,


Als schnell schon Wunder an sie zog;

Es sah so bunt und war ein Netz

Und lag voll Kornes. Schnell hinflog

Sie ab, seitab, ins Netz.


Die Mutter kommt. Um Fuß und Haupt

Liegt tödtlich, ach! ihr Kind verstrickt;

Sie schwirrt umher, kann, kindberaubt,

Nur jammern, ach! und pflückt,


Pflückt angstbetäubt am Netze – zieht

Des Todes Netz nur fester zu.

Todt sinkt ihr Frühlingskind! Sie flieht

Und flüchtet neu herzu


Und weinet. – Kinder, kennten sie

Der Eltern liebevolles Herz

Und früher Lehren Treue, nie

Vergrämten sie zu Schmerz


Sich selbst – und die's so wohl gemeint,

Sie mit so vieler Liebemüh

Erzogen! – Sieh, die Arme weint,

Und – ach, da sinket sie!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 376-377.
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