Laokoon's Haupte

[261] 1768.


O Du, in einem großen Seufzer

Gen Himmel ziehend, zeuchst aus tiefstem Herzensabgrund

Der Deinen Seel' auf diesem Seufzer

Gen Himmel mit empor!


Den drachumwundnen Erdenkörper,

Wie giftgeschwellt er unterliegt! Die dürre Scherbe

Zerbricht den Todeston der Hyder,

Wie sie erliegt, die Hand!


Ohnmächtig, was uns Götter flochten,

Zu lösen! Schlangenknäul hinwegzuheben! Wie ihn[261]

Ein nacktes Angstgerippe hebet,

Den Seufzer, und ermorscht!


Und Vaters Ohr umheulen Klagen,

Weh der Unmündigen, aus lautem offnen Schlunde,

Die statt der Vaterarme Schlangen

Ergreifen – grausend Bild.


Du bist versunken – bist gesunken

Zum Hügelstaub, der dann, des Wandrers letzte Ruhstatt,

Für aller mit ihm Wandrer Augen

Ein Aschenkloß erscheint!


Nur dieses ew'ge Haupt! – Der Seufzer

Auf ihm, wie er aus tiefster Herzensjammerhöhle

Der todtgequälten Seinen Seele

Gen Himmel mit sich zeucht!


Gen Himmel zeucht und schwer beladen

Ermattet, jammernd weg sich wendet, und wie Hauch nur

Auf unsichtbaren Freundes Sterbekissen

Das Haupt danieder senkt!


O Du, der hohen Himmelsgötter

Ein stumm Erbarmungsbild! in aller Himmel Mitte

Verlassen! – aller armen Menschheit

Die höchste Majestät


Des Leidens! Ach, wo bist Du, bist Du

Belohnt, Laokoon! Als nun des Sterbeseufzers

Erddumpfer Trauerfall in Wonne,

In Wehmuthlust zerfloß,


Und alle Engel ein Dich holten,

Und offnen, lauten Munds Dich Engel, Deine Kinder,

Umarmeten (der Drachenknote

Des Schicksals war zerstückt,


War weggehoben!), und auf Flügeln

Des hocherhabensten der Seufzer, als Du kraftlos

In neuer Welt (soll ich ihn nennen,

Den Allgewaltigen,


Den Hohen, unter dem wir leiden

Und Staub sind! oft verlassen leiden! unterm Himmel

Wie unerhört und einsam sterben,

Verlieren uns wie Hauch!),
[262]

Als Du – bist Du zu seinen Füßen

Gesunken? sahest ihn? sahst erderein Dein Leben?

Des Ganzen Schöne? und im Tode

Die höchste Schöne? – sahst


Und feiertest, wie hier auf Erden

Kein Erdkloß feiert, dem noch dunkle Himmel wallen,

Und Schlangen drohen, oder Schlangen

Im Innersten vielleicht


Ihm wüthen! – Sei, o Haupt, mir Bote

Der Gottheit! – Leidensbild! wie Majestät des Schmerzens

Auf ihrer Seele Andrer Seele

Gen Himmel zeucht und ruht!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 261-263.
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