Mein Tagewerk

[305] 1772.


So komm, o komme, meines Lebens Stab,

Gefährte, der von früh auf mit mir schritt,

Komm, süße Müh, und leite auf und ab

Den Lebenshügel eines Wandres Tritt,


Der oft ermattet! Ziel- und hüttelos

Irr' ich in Wüsten; sei, o Arbeit, Du

Mir Führerin, daß in der Ruhe Schooß

Ich nicht unwürdig meines Lebens ruh'!


Denn Ohnmacht der Zerstreuung selbst ist Schmach,

Ist Tantal's Strafe; sehnend irrt sein Blick

Vom Silberstrom zum Apfelgold, und ach!

Er kehrt nur immer sehnender zurück.


Nimm, was es sei, mein Geist, in Deinen Blick,

Und fändest Du am schwer erreichten Ziel

Nur Deinen matten Pfeil. Des Lebens Glück

Ist Lebens Mühe; doch des Glückes viel
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Gewährt die Mühe; wie mit Schöpferskraft,

Mit Selbstbewußtsein reget sie uns warm.

Drum fühl Entschluß, so lange Lebenssaft

Dir quillet, und kein Feind soll Deinen Arm


Verrücken, wenn Du schnellst, der Lüfte Scherz,

Den Pfeil; nur eh der Tod ihn Dir entreißt,

Weil Du noch schlägst (Du schlägst nicht immer, Herz!),

So fühle Dich und wirk und schaffe, Geist!


Denn einst wird's um mich Abend. Jener Blick

Der schönen Sonn' erlischt und träufelt Thau

Statt Strahlen nieder; Zephyr kehrt zurück

Zum jungen Morgenroth und läßt der Au'


Nur kalte Schauer. Tief verstummt umher

Das Chor der Vögel, senkt die Schwingen ab

Und schlummert; um Dich rings in Luft und Meer

Von Erd' zu Himmel wird's ein dämmernd Grab,


Wird, wie Du, Geist, denn bist. Es schließet sich

Die Seele wie die Blume. Zarter Leim

Des Lebens, Du erstarrest; Dir entwich

Dein Balsam, und der lebensschwangre Keim


Der Thaten liegt erstorben. Jenes Bild,

Ein Wahnbild, hieß der Sieger aller Welt,

Hieß Alexander einst: die Asche füllt

Jetzt ihren Sarg nicht mehr; der kühne Held


Zerfällt beim Fingerregen. Und sein Lauf

Voll Wunderthaten ist uns Fabel, Wind

Der Fern' in leere Flöten, Pfennigkauf

Der Straßensänger. Alle sind, sie sind


Uns Fabeln, Hercul, Solon und Homer,

Achill und Hektor, sind ein Todtenbein

Und Namenschall; ihr großes Thatenheer

Ist Märchen, Märchen auf dem Leichenstein.


Drum weil ich lebe, leb' ich. Komm, o Stab

Des Wandrers! Dir zur Seite Gutes thun,

Ist Lohn für mich und Leben. Tod und Grab,

Und Grab und Tod heißt bald genug uns – ruhn.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 305-306.
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