Der späte Kranz

[153] Nach dem Italienischen.


Ich pflanzte früh ein kleines Lorbeerreis

Und sah gen Himmel auf mit stiller Bitte:

»Laß, Himmel, dieses Bäumchen glücklich wachsen,

Daß es mit Zier einmal den Pflanzer kröne!«


Und bat den Zephyr: »Holder Zephyr, breite

Die Schwingen ringsum über seine zarten,

Mir lieben Zweige! Wenn der Nordwind heulet,

O wehr ihm, daß er nicht dem Bäumchen schade!«


Ich weiß es wol, die zarte Phöbuspflanze

Erwächset langsam; unter allen Bäumen,

Die hier die Aue trägt, ist sie die spätste.


Was kümmert mich ihr längeres Verweilen?

Denn endlich, wenn auch spät, nach Müh und Arbeit,

Wird doch gekränzt, wer je den Kranz verdiente.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 153-154.
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