70.

[336] Sancho, König in Navarra,

Zugenamt der Heldenmütge

– Er, des großen Cids Urenkel,

Den ganz Spanien noch verehrt –.

Mit Alfonso von Kastilien

Führet' er siegreiche Kriege,

Drang hinein bis über Burgos,

Überall gewinnend Beute,

Bis mit solcher reich beladen

Er hinwegzog, voll des Wahnes,

Niemand könn ihm widerstehn.


So kam er auf seinem Rückzug

In das Kloster de Cardeña,

Wo begraben lag der Cid,

Hochverehrt; denn niemand glich ihm

Seit der Zeit an Mut und Stärke,

Wie an Güt und Redlichkeit.


Vorgesetzter dieses Klosters

War ein Abt, ein Mann von Jahren,

Der als Ritter einst in Waffen

Ehre sich und Ruhm erworben,

An Gestalt ein Mann von Ansehn,

Voll Gemüts; es drückt' ihn schmerzlich,

Daß der König von Navarra

Mit dem Schimpfe von Kastilien

So viel Beute mit sich nahm.


Als der König zum Altare

Trat, bewundernd seine Fahne,

Deren gleich er in ganz Spanien[336]

Keine nirgend je gesehn,

Riß der Abt sie vom Altare

Und erhob die Fahne – Cids.


»Wisse«, sprach er, »großer König,

Wiß, in diesem heilgen Kloster,

Das mir anvertrauet ist,

Liegt ein Held, mit dessen Fahne,

Unter ihr darf ich mich messen,

Großer König, selbst mit dir;

Denn hier ist die Leichenstätte

Cids, genannt Campeador.


Eine Gunst von dir zu bitten,

Herr, ergriff ich seine Fahne

Kühn und trage meine Bitte

Dir in tiefster Demut vor.

Laß den Raub zurück, o König,

Den du unserm Land entziehest!

Dir gereichts zu höherm Ruhme,

Wenn du ihn der Heldenfahne

Weihest und dem Grabe Cids.«


Einen Augenblick betroffen

Und nachdenkend stand der König

Über dieses Abtes Mut;

Dann sprach er: »Aus mehrern Gründen

Tu ich, Vater, was Ihr bittet,

Und laß meine Beute hier.


Erstens, weil ich, aus dem Blute

Des Campeadors entsprossen,

Der Urenkel bin vom Cid.

Seine Tochter Doña Elvira,

Die Gemahlin Don Garzias

Rühm ich, ist Großmutter mir.
[337]

Zweitens laß ich, aus Verehrung

Gegen diese Heldenfahne

Und des hier Begrabnen Ruhm,

Eurer Obhut anvertrauet

Gern die Kriegesbeute hier,


Die ich dann auch, recht gesaget,

Wäre jetzt der Cid am Leben,

Wohl nicht mit mir nehmen dürfte;

Nie wär ich so weit gekommen,

Hätte nie sie mir erworben,

Nie ließ er vor seinen Augen

Sie hinziehn aus seinem Lande,

Lebte noch der tapfre Cid.

Also laß ich sie dem Toten,

Euch zu frommem Brauch zurück.«


Er befahl, und alle Beute

Blieb dem Kloster von Cardeña;

Sie ward eine fromme Stiftung.

Ein Wohltäter für die Armen,

Ein Beschützer der Verlaßnen

Ward der Cid auch in der Gruft.

Quelle:
Herders Werke in fünf Bänden, Band 1, Weimar 1963, S. 336-338.
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Der Cid
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