An die Sonne

bei dem Leichenbegängnisse Friedrichs des Größten

[121] den 9ten Sept. 1786.


Geliebte Fürstin der Natur,

O Sonne! hülle dich in Schleyerwölkchen nur,

Und nicht in eine schwere finstre Wolke,

Du schöne Himmelsmajestät!

Bleib freundlich diesem Trauervolke.

Sieh, dieser Zug, der langsam geht,

Der Königliche Leichenwagen,

Bedeutet mehr, als je dein Blick gesehn,

Wenn Weltbeherrscher fortgetragen

In Grüfte wurden, wo kein Klagen,[121]

Kein Opferbringen, und kein Flehn

Den Hingetragnen weckt, wo düster die Verwesung

Auf ewig kaltem Throne sitzt,

Wenn Jahr an Jahr zur Neugenesung

Dein milder Frühlingsstrahl erhitzt

Die winterkrank gewesne Erde,

Daß Baum und Pflanze wieder blühn,

Und Berg und Thal bekleidet werde

Mit wiederfrischem Jugendgrün:

Nur Gras und Blumen kannst du wecken

Und Wurm und Schwalben, die ihr Haupt,

Ihr leblos Haupt, im Sumpf verstecken;

Mehr ist dir nicht erlaubt –.


Die Könige, die dir geglichen

An Größe, Mildigkeit und Macht,

Und so wie Laub und Gras verblichen,

Die werden nicht hervorgebracht

Aus ihren Gräbern, wenn die Schwalbe

Durch deine Würkung wieder lebt,

Und bäte dich darum die halbe

Verwayßte Welt, die mit begräbt

Ihr blühend Glück, und Stolz, und Wonne,

Du bist ohnmächtig ihrem Ruf –

Du siehst nicht mehr als Morgensonne[122]

Den Früherwachten, der schon in Gedanken schuf,

Was Millionen Menschen nützte,

Wenn deinem Glanz die Lerch entgegen sang –

Du siehst nicht mehr den Helden, der uns schützte,

Der mit viel Feinden für uns rang.

Du wirst in Seiner Hand nicht mehr Sein Schwerdt vergülden,

Er gab es Seinem Folgefürst,

Den du dereinst in Schlachtgefilden

Zu Heldenkampf auch wecken wirst,

Wenn gegen uns ein Feind sich hübe

Vom Waffenlager fürchterlich –

Ihn wird auch Landesvaterliebe

Nicht ruhen lassen, wenn du dich

Schon zeigst im rosenfarbnen Schleyer:

Dieß ist Sein Vorsatz königlich –


Er weint, Sein Vorbild war so groß, so lieb, so theuer,

Und ach, du selber trübest ja

Dein Antlitz bei der Leichenfeyer,

Weils Seine Thränen fließen sah –

Zeuch Wasser aus der Spree und aus der Hafelwelle,

Und aus der Ostsee, wenn du willst;

Noch weilt Er auf der Grabesschwelle,[123]

Und segnet Friedrichs Schlummerstelle,

Indeß du dich in Trauer hüllst;

Noch tönt bei heiligen Gebeinen

Der Todtensang zu dir empor –

Laß eher nicht den Himmel weinen,

Bis Saytenspiel und Sängerchor

Genug geklagt, bis Alles schweiget

Und Alles aus dem Tempel wich,

Und nur ein stilles Ach noch steiget

Weit über dich –
[124]

Quelle:
Anna Louisa Karsch: Gedichte von Anna Louisa Karschin, geb. Dürbach. Berlin 1792, S. 121-125.
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Gedichte (Ausgabe 1792)
Die Sapphischen Lieder: Liebesgedichte
Gedichte: Ausgabe 1792

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