Maria

[574] Wie Silberglocken am Marienfeste

Versenden ihren reinen, hellen Klang,

Durch Stadt und Flur und stillen Waldeshang

Weithin geführt vom sanftbewegten Weste:

So drang der Ruf zur Ferne hell und rein,

Und seinem Wohlklang jedes Herz entbrannte,

Wenn er Marie, die Königstochter, nannte,

Der Tugend und der Schönheit Morgenschein.

Vergebens war manch Dichterherz entglüht,

Zu schildern durch begeisterte Gesänge

Der jungfräulichen Reize hold Gedränge,

Das um den schönen Leib Marias blüht;

Vergebens preist sein bettelhaft Geklimper,

Wie tief dies Auge mit der Schattenwimper

In süße Einsamkeit das Herz entreißt

Und alle Welt umher vergessen heißt;

Wie diese Rosenlippen sich erschließen,

In jedem Wort ein holdes Lied vergießen:

So läßt der Lenz aus frischen Rosenröten

Der Nachtigallen Zauberlieder flöten;

Wie diese sanftgehauchte Jugendglut,

Ein Traum von Rosen, auf den Wangen ruht,

Vom Morgenrot ein fernes Widerscheinen,

Das einst gestrahlt den Paradieseshainen.

Sie ist so schön, die schönste der Jungfrauen,

Daß man sie nicht kann ohne Schmerz betrachten,[574]

Denn zitternd spricht das Herz mit bangem Grauen:

Nach dir muß selbst der Tod, der kalte, schmachten! –

O schwelge noch in ihrem Anblick, Welt,

Solange dieser flüchtge Zauber hält!

Berauschet euch in ihrem Odem, Lüfte!

Verhaucht, beglückte Blumen, eure Düfte!

O eilet schneller aus den Himmelsfernen

Herüber, goldne Strahlen von den Sternen,

Und strömet eure Küsse auf sie nieder,

So holde Jungfrau findet ihr nicht wieder.

Quelle:
Nikolaus Lenau: Sämtliche Werke und Briefe. Band 1, Leipzig und Frankfurt a.M. 1970, S. 574-575.
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