Die Einsamkeit

[157] Amat nemus et fugit urbes.

Hor.


Wie blinkt mir der Himmel

Im Grünen so hehr.

Der Städte Getümmel

Ist rauschend und leer.

Drum sei meiner Thränen

Vertraute die Flur,

Drum höre mein Sehnen

Die Einsamkeit nur.


Ihr liebt' ich, im Lenze

Des Lebens, im Hain

Schon Veilchen in Kränze

Zum Opfer zu reihn.

Ihr späht' ich, beim Hauche

Der Mailuft, am Bach

Im Nachtigallstrauche

Wohl Stundenlang nach.
[157]

Ihr seufzt' ich, vom Spiele

Der Jünglinge fern,

Die Erstlingsgefühle

Der Liebe so gern!

Ihr war, beim Geflimmer

Der Sterne, mein Leid

Und jeglicher Schimmer

Der Freude geweiht.


Mir sei bis zum Grabe

Gefährtin und Braut

Die, der ich als Knabe

Mein Innres vertraut.

Nur sie hat die Zähren

Der Trennung gestillt,

Und himmlische Sphären

Voll Glanz mir enthüllt.


Sie meidet die Pfade,

Flieht Park und Alleen,

Und weilt am Gestade

Romantischer Seen,

Wo Vögel nur schmettern,

Das Eichhorn nur lauscht,

Und etwa den Blättern

Ein Täubchen entrauscht.


Nur ihr sind, vom wilden

Granitfels umdräut,

An Gletschergefilden

Die Thäler geweiht,

Wo Adler nur streifen[158]

Am Lerchenbaumwald,

Und fernher das Pfeifen

Der Gemsen erschallt.


Sie freut sich der Schlünde

Volkanischer Gluth,

Des Sausens der Winde,

Der zürnenden Fluth.

Sie wohnt unter Spalten,

Nur mondlich erhellt,

In Gräbern der alten

Gebieter der Welt;


Am Sturz der Gewässer,

Im öden Gestein

Umwaldeter Schlösser

Und wüster Abtein,

In Grotten und Klüften

Von Tannen umkränzt,

An Urnen und Grüften

Vom Vollmond beglänzt.


Der Welt zu vergessen,

Empfangt mich, ihr Höhn,

Wo dunkle Zipressen

Ein Grabmal umwehn;

Wo, tief zwischen Ranken

Der Wildniß versteckt,

Kein menschliches Wanken

Den Träumenden weckt.

Quelle:
Friedrich Matthisson: Gedichte, Band 1, Tübingen 1912, S. 157-159.
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