Fiebernacht

[69] »Berggeist, ich höre deine Ströme rauschen –

Gib mir Gehör! Wir wollen Rede tauschen!

Du von der Firn und aus der Gletscher Kühle,[69]

Ich aus der engen Krankenkammer Schwüle!

Du weißt es, Geist, ich liege hier gefangen

Und lasse den geknickten Flügel hangen,

Ich ächz und stöhne, den gelähmten, wunden,

Gebrochnen Arm dicht an den Leib gebunden.

Zwei kurzer Wandertage süßes Träumen –

Und dich verdroß ein Gast in deinen Räumen.

Von deinem Tische stießest du den Zecher,

Entrissest ihm den eisgewürzten Becher,

Und rolltest ihn hohnlachend durch die Klüfte

Hinunter in des Fieberlagers Grüfte.

Verräter, schmählich hast du mich betrogen!

Hast du mich leise rufend nicht gezogen?

Warst du mir lange Jahre nicht gewogen?

Und wann in deinem Reich ich mich verirrte,

Schritt nicht, wie Zufall, mir voran ein Hirte

Und ließ mich – ungerufen, ungebeten –

Bergab in seine sichern Stapfen treten?

Du bist mir gram geworden? Laß dich fragen!

Muß ich der führerlosen Fahrt entsagen?

Des hohen Irreganges mich entwöhnen?«

Mir gab Bescheid der Geist mit tiefen Tönen

Im Flutensturz und in der Laue Dröhnen,

Es klang wie Drohn und wieder klang's wie Höhnen:

»Ein junger Wandrer kam zu mir gefahren

Mit hast'gen Schritten und mit wehnden Haaren,

Ein bleiches Bild! So ist er ohne Bangen

Auf meinen schmalen Gräten umgegangen,

Und über Klüften, schwindelnd abgrundtiefen,

Aus welchen jubelnd ihn die Wogen riefen,

Ist er gewandelt auf gestürzten Föhren

Und schien in meine Wildnis zu gehören,

Ein dumpfer Ton in meinen dumpfen Chören –

Du warst's... und gingst an eines Abgrunds Saume,

Unkundig der Gefahr, in wachem Traume!

Doch mir gefiel der Kühne und der Blinde,

Und Sorge trug ich dir als einem Kinde –

Jetzt, lieber Herr, bist leidlich du vernünftig,

Hast Weib und Hof, bist in der Gilde zünftig,

Verlaß dich nicht auf meine Flügel künftig!«


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 69-70.
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