Die neue freie Zeit

[45] Nun freuet euch, ihr Frommen,

nun ist der Tag gekommen,

den ihr so lange erharrt:

Durch Beten und durch Glauben,

nun wird man rückwärts schrauben

die schnöde Gegenwart.


Trotz Widerspruch und Schnarchen,

die Zeit der Patriarchen,

schon kehrt sie uns zurück:

Modern sind wir gewesen,

nun werden wir Chinesen –

Chinesen, welch ein Glück!


O China, Reich der Sitte,

Reich der gerechten Mitte,

du Reich der Majestät:

Wo niemand braucht zu sorgen,

wo alles heut wie morgen,

in ew'gen Gleisen geht!


Dein Beispiel soll uns lehren,

zur Einfalt zu bekehren

das sündige Geschlecht:[45]

Nun scheren wir die Köpfe,

nun salben wir die Zöpfe,

der dickste Zopf hat recht!


Nun müßt ihr schweigend sitzen

und auf die Nasenspitzen

in stiller Andacht sehn:

So wird die Menge preisend

und mit dem Finger weisend

euch demutvoll umstehn.


Nun gegen Strauß und Bauer,

nun baut man eine Mauer

rings um das Reich herum:

drauf stehn mit stolzen Mienen

die Herren Mandarinen

und nicken und – sind stumm.


Das Schreiben und das Sprechen

das gilt nun als Verbrechen,

denn nur der Kaiser spricht!

Nun, mächtiger und weiser

als unser Herr, der Kaiser,

ist selbst der Herrgott nicht.


Und will das Fleisch sich regen,

und fragen wir, weswegen?

O dann dem Kaiser Preis:

Dann kriegen wir als Kinder,

bald stärker, bald gelinder,

die Rute auf den Steiß.


So bilden wir mit Ehren

als ob wir's selber wären,

den Mittelpunkt der Welt!

Was schert in unsrer Glorie,

was schert uns die Historie,

wenn's nur zusammenhält?
[46]

Drum immer frisch geschoben,

gehoben und geschroben,

nach China frisch herum!

Doch wollt ihr's recht vollenden,

o dann mit gnäd'gen Händen,

o gebt uns Opium!


1842


Quelle:
Robert Eduard Prutz: Prosa und Lyrik, Leipzig 1961, S. 45-47.
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