Saul unter den Propheten

[564] Meinst du denn, daß man sich sinken sieht?

Nein, der König schien sich noch erhaben,

da er seinen starken Harfenknaben

töten wollte bis ins zehnte Glied.


Erst da ihn der Geist auf solchen Wegen

überfiel und auseinanderriß,

sah er sich im Innern ohne Segen,

und sein Blut ging in der Finsternis

abergläubig dem Gericht entgegen.


Wenn sein Mund jetzt troff und prophezeite,

war es nur, damit der Flüchtling weit[564]

flüchten könne. So war dieses zweite

Mal. Doch einst: er hatte prophezeit


fast als Kind, als ob ihm jede Ader

mündete in einen Mund aus Erz;

Alle schritten, doch er schritt gerader.

Alle schrieen, doch ihm schrie das Herz.


Und nun war er nichts als dieser Haufen

umgestürzter Würden, Last auf Last;

und sein Mund war wie der Mund der Traufen,

der die Güsse, die zusammenlaufen,

fallen läßt, eh er sie faßt.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 564-565.
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