Uber das Evangelium am Sechsten Sontage nach Ostern, Exaudi genant

[257] 1.

O Gottes Geist, Mein Trost und Raht,

Mein treüer Hort und Advokat,

Ich zweifle nicht, daß auf mein behten

Du werdest Mich also vertreten,

Daß Ich für Gottes Angesicht'

Und Richterstuhl' erschrekke nicht;

Ach lehre Mich den Mittler kennen,

Den alle Welt muß Heiland nennen.


2.

Du stehest Mir in Nöhten bei,

Du lösest Mich die Zunge frei,

Daß Ich bei Meinem Gott kan bleiben,

Wen Mich die stärksten Feinde treiben.

Du machst Mir freüdig Hertz und Muht,

So daß Ich Ehre, Guht und Bluht

Kan tapfer für den Glauben wagen,

Dazu Mein Kreütz gedültig tragen.
[257]

3.

O wehrter Geist, Du richtest recht,

Im fall' Ich armer Sünden Knecht

Viel ärger alß Ein Fluch der Erden

Vom Satan sol verdammet werden.

Du sprichst: Wer Sich bekehret hat

Von seiner Sünd' und Missethat

Und Christus gäntzlich Sich ergeben,

Der sol nicht sterben, sondern leben.


4.

Wie richtet doch die schnöde Welt,

Wen Unß das Kreütz verriegelt hält!

Da heist es: Gott hat Ihn verlassen,

Der allerhöchster muß Ihn hassen.

Hie findet man daß Wiederspiel:

Daß Kreütz ist frommer Christen Ziel.

Wer Gottes liebes Kind wil heissen,

Der muß sein Brod mit Trähnen beissen.


5.

O guhter Geist, Du läst Mich nicht,

Wen Mich der Satan hart anficht;

Du stehest alß Ein Held in Nöhten,

Wen mich die böse Welt wil tödten;

Du stärkest Mir Muht, Seel' und Sinn,

Wen Ich in tausend Aengsten bin;

Ja wen Mir wil Mein Hertz zerspalten,

So lehrest du Mich freüdig walten.


6.

Waß acht' Ich doch die schnöde Welt

Mit aller Wollust, Ehr' und Geld?

Waß können Mir Tyrannen schaden?

Sie sind ja nichts alß Koht und Maden.

Der edle Tröster lehret Mich,

Auf Gott zu bauen festiglich:

Der wil Mir stets sein Hülffe reichen,

Wen gleich die Berge solten weichen.


7.

Du Geist der Warheit zündest an

Ein Licht, daß Ich erkennen kan

Daß, waß der schnöden Welt verborgen,

Darf nit deß Glaubenß halber sorgen;

Und wer' Ich endlich noch so schlecht,

So lern' Ich doch verstehen recht

Deß Herren Werk' und Wunderthaten,

Die Fleisch und Bluht nicht kan errahten.


8.

Der Satan ist ein Lügen Geist,

Den Christus einen Mörder heist:

Der Geist vom Himmel kan Unß führen

So, daß Wir Licht und Wahrheit spühren.

Er leitet Unß zu Gottes Wohrt',

Und dises ist allein der Ohrt,

In welchem Glaub' und Liebe gläntzen,

Die beid Unß Christen schön bekräntzen.


9.

Nun, wehrter Geist, Ich folge Dir:

Hilff, daß Ich suche für und für

Nach Deinem Wohrt' ein ander Leben,

Daß Du Mir wilt auß Gnaden geben.

Dein Wohrt ist ja der Morgenstern,

Der herlich leüchtet nah' und fern;

Drum wil Ich, die Mich anderß lehren,

In Ewigkeit, Mein Gott, nicht hören.


10.

Behüte Mich, daß Ich der Welt,

Die Mir so heimlich Strikke stelt,

Nicht folg' auf Ihr geschmiertes rahten

Mit heücheln oder bösen Thaten.

Den ob schon Gott sehr gnädig ist,

So kan Er doch in kurtzer frist

Den Sünden Knechten diser Erden

Ein starker Feind und Rächer werden.


11.

O Geist der Wahrheit, steh Mir bei,

Daß Ich nicht bloß ein Hörer sei

Deß Wohrts; laß Mich für allen Dingen

Nach einem neüen Leben ringen.

Ach steüre Meinem Fleisch und Bluht,

Daß Dir so viel zu wider thut;

Wie werd Ich armer sonst bestehen,

Wen nun die Welt sol untergehen?


12.

Herr, tröste Mich in aller Noht,

Ja stärke Mich, wen nun der Tod

Die Seele wil vom Leibe scheiden:

Alß den versüsse Mir Mein Leiden.

Sei du Mein Lehrer, Schutz und Raht,

Dempf' alle Meine Missethat,

Hilf Noht und Tod Mir überstreben

Und laß Mich ewig bei Dir leben.


Quelle:
A. Fischer / W. Tümpel: Das deutsche evangelische Kirchenlied des 17. Jahrhunderts, Band 2, Hildesheim 1964, S. 257-258.
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