VI.

[141] In einer stillen Nebengasse der von Menschen und Fuhrwerk aller Art dicht belebten Gersthofer Straße, die in die lachenden Gefilde von Pötzleinsdorf hinausführt, befindet sich ein ausgedehntes, klosterähnliches Gebäude mit angrenzendem Garten. An der Stirnseite trägt dieses Gebäude in goldenen Lettern die Inschrift: »Haus der Barmherzigkeit«. Und diese Bezeichnung verdient es im vollsten, im eigentlichsten Sinne des Wortes. Denn in seinen weitläufigen Sälen und Zimmern beherbergt es Arme und Hilflose, die mit unheilbaren Übeln behaftet sind. Alle Gebreste und Krankheiten, deren bloßer Name Grauen und Schauder erweckt, sind hier anzutreffen, und die davon Befallenen werden mit unermüdlicher Hingebung von mildtätigen Nonnen betreut, bis sie der Erbarmer Tod von ihren Leiden erlöst. Den meisten geht er grausam jahre- und jahrelang vorüber; aber fast alle tragen ihr schreckliches Los in stummer Duldung, ja oft mit freudiger Ergebenheit, ein Beweis von der Leidensfähigkeit der menschlichen Natur und von der unendlichen Zähigkeit des Willens zum Leben ...

Unter diesen Unglücklichen befand sich auch lange Zeit hindurch die arme Rosi.

Sie hatte am Morgen jenes verhängnisvollen Tages andächtig in der Kirche gekniet und den Himmel inbrünstig angefleht, ihr und dem Schirmer gnädig zu sein. Denn sie hatte[141] das Gefühl, daß ihr und ihm ein großes Unheil bevorstehe. Auch war es ihr, als hätte sie eine Schuld auf dem Gewissen. Denn sie hatte Schirmer etwas verschwiegen, das sie ihm hätte mitteilen sollen; aber bei der ihr angeborenen Schämigkeit hatte sie es nicht über die Lippen gebracht. Als sie in die Versorgung aufgenommen wurde, war sie, trotz einer gewissen Schwäche und Hinfälligkeit, die ihre beginnende Erkrankung mit sich brachte, noch eine ganz liebliche Erscheinung gewesen. Als solche erweckte sie die Aufmerksamkeit und nach und nach die senile Lüsternheit Weißeneders. Er stellte ihr Anträge, die sie mit Schrecken und Abscheu zurückwies. Zuletzt unternahm er bei günstiger Gelegenheit einen rohen Angriff, so daß sie um Hilfe rufen mußte. Es war niemand herbeigekommen, aber Weißeneder hatte von ihr abgelassen und sah sie seit jener Stunde, die eine ihren Zustand verschlimmernde Nervenerschütterung zur Folge hatte, nicht mehr an. Sie aber fühlte, daß sie der Mann nunmehr hasse und nur auf eine Gelegenheit warte, um sich zu rächen. Und nun hatte er sie mit Schirmer in dem Wirtsgarten getroffen, was ihm die Genugtuung bot, sie auch verachten zu können. Das schmerzte sie tief. Und jedenfalls würde er nicht säumen, seinen Groll an Schirmer auszulassen, der unter seiner Botmäßigkeit stand. Den mußte sie also, so schwer es ihr werden würde, von allem in Kenntnis setzen, damit er auf der Hut sei.

Mit diesem Vorsatze war sie aus der Kirche weg zur Barbara-Kapelle gegangen, deren Vergitterung nur an ganz bestimmten Festtagen offen stand; heute war sie wie gewöhnlich geschlossen. Sie ging also davor erwartungsvoll auf und nieder. Der Tag hatte sich schon am frühen Morgen sehr heiß angelassen. Eine dumpfe Schwüle brütete rings, und die Sonne, deren Strahlen sengend und stechend niedergebrannt, verschleierte sich allmählich mit trüben Dunstmassen. Der Rosi wurde es ängstlich zumute. Eine bleierne Schwere lastete ihr im Nacken, sie konnte kaum mehr die Füße heben. Ihre kranken Nerven[142] spürten ein herannahendes Gewitter, und wirklich tauchten schon hinter den Höhen des Kahlengebirges dunkle Wolkenspitzen hervor. Sie ließ sich auf eine kleine Rasenböschung in der Nähe nieder. Langsam, schier endlos schlichen die Minuten, schlichen fast zwei Viertelstunden an der Harrenden vorüber. Aber Schirmer kam nicht. Da mußte etwas vorgegangen sein! Eine tödliche Angst befiel sie. Sie erhob sich, um nach Hause zu eilen. Da vernahm sie rollenden Donner, und leichte Blitze zuckten aus dem dunklen Gewölk, das inzwischen höher und höher gestiegen war. Fort! Rasch fort! Aber schon erhoben sich heftige Windstöße, die sie mit entfesseltem Regenguß vor sich hinpeitschten. Als sie, triefend vor Nässe, im Hause anlangte, war das Entsetzliche längst geschehen. Regungslos, fast stumpfsinnig, vernahm sie die Kunde, bis sie endlich mit ausbrechendem Jammer an ihrem dürftigen Bette niedersank ...

Die Eindrücke dieses grauenvollen Tages hielten in ihr ungeschwächt vor und waren fast ihre einzige Erinnerung, als sie nach einer Reihe von Jahren mit zum Teil eingeschrumpften, zum Teil entzündlich geschwellten Gliedern und bewegungslosem, starrem Antlitz im Hause der Barmherzigkeit lag. Alles andere schwebte ihr nur undeutlich vor: ihre Kinder- und Jugendjahre, ihre traurige Ehe – ja selbst die Gestalt Schirmers. Die sah sie wie aus weiter, weiter Ferne, von einem lichten Nebelschleier umhüllt. In bösen Träumen aber, die sie bisweilen hatte, wenn sie nach qualvoll durchwachten Nächten endlich einschlief, erschien ihr nicht selten der lange und hagere Weißeneder mit dem frechen Gesicht, der vorspringenden Nase und den kleinen Schlangenaugen. Er streckte die Krallenhände nach ihr aus, und die Hanstein stand dabei und fletschte die schadhaften falschen Zähne. Und dann erwachte sie bebenden Herzens und empfand es wieder als unverzeihliche Schuld, daß sie dem Schirmer nicht alles gesagt und ihn gewarnt habe. Auch von der Zeit träumte ihr öfter, die sie an der Klinik eines berühmten Professors zugebracht. Der hatte sie dort aufgenommen und zwei Jahre[143] lang behalten, um seinen Schülern das langsame und wechselvolle Fortschreiten jener so seltenen, auf einer Verhärtung des Hautzellgewebes beruhenden Krankheit zu demonstrieren, von der sie ergriffen war. Bei diesen täglichen Untersuchungen und Bloßstellungen ihres jammervollen Leibes hatte sie unsäglich gelitten, bis sie endlich auf ihr flehentliches Bitten in das Asyl der Unheilbaren versetzt wurde. Auch die Hofbauer mit der großen Balggeschwulst am Halse erblickte sie zuweilen. Das gute alte Weib hatte mit ihr die Versorgung verlassen, weil ja dort für die Freundin keines Bleibens mehr war, und beide hatten hierauf in einer feuchten, dunklen Kammer bei einer Taglöhnerfamilie gewohnt und ein grenzenlos kümmerliches Dasein gefristet. Und dann erzählte ihr die Hofbauer, daß sich der Weißeneder wegen schwerer körperlicher Verletzung zu verantworten gehabt habe, aber infolge der Aussage des Zeugen Wufka ganz glimpflich davongekommen sei. Nun lebe er nicht mehr; die Hanfstein aber schleppe sich noch auf Krücken herum. Von alledem träumte der armen Rosi, wenn sie nach qualvoll durchwachten Nächten endlich einschlief. Von Schirmer aber träumte ihr seltsamerweise nie. Nur ein einziges Mal – sie wußte nicht recht, ob sie schlafe oder wache – war es ihr, als befände sie sich in seinem Hause an der Donaulände. Sie setzte ihm das Essen vor, und er ergriff ihre Hand. Und da durchströmte sie ein so süßes, so wonniges Gefühl, daß sie hätte aufjauchzen mögen vor Glück. Das war aber in der Stunde, wo sie der große Allerbarmer zu sich rief.[144]

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 12, Leipzig [1908], S. 141-145.
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