Die verfehlte Stunde

[199] Quälend ungestilltes Sehnen

Pocht mir in empörter Brust.

Liebe, die mir Seel' und Sinnen

Schmeichelnd wußte zu gewinnen,

Wiegt dein zauberisches Wähnen

Nur in Träume kurzer Lust,

Und erweckt zu Thränen?

Süß berauscht in Thränen

An des Lieben Brust mich lehnen,

Arm um Arm gestrickt,

Mund auf Mund gedrückt,

Das nur stillt mein Sehnen!


Ach, ich gab ihm keine Kunde,

Wußt' es selber nicht zuvor;

Und nun beb' ich so beklommen:

Wird der Traute, wird er kommen?

Still und günstig ist die Stunde,

Nirgends droht ein horchend Ohr

Dem geheimen Bunde.

Treu im sel'gen Bunde

An des Lieben Brust mich lehnen,[200]

Arm um Arm gestrickt,

Mund auf Mund gedrückt,

Das nur stillt mein Sehnen.


Hör' ich leise Tritte rauschen,

Denk' ich: ah, da ist er schon!

Ahndung hat ihm wohl verkündet,

Daß die schöne Zeit sich findet,

Wonn' um Wonne frei zu tauschen. –

Doch sie ist schon halb entflohn

Bei vergebnem Lauschen.

Mit entzücktem Lauschen

An des Lieben Brust mich lehnen,

Arm um Arm gestrickt,

Mund auf Mund gedrückt,

Das nur stillt mein Sehnen.


Täuschen wird vielleicht mein Sehnen,

Hofft' ich, des Gesanges Lust.

Ungestümer Wünsche Glühen

Lindern sanfte Melodieen. –

Doch das Lied enthob mit Stöhnen

Tief erathmend sich der Brust,

Und erstarb in Thränen.

Süß berauscht in Thränen

An des Lieben Brust mich lehnen,

Arm um Arm gestrickt,

Mund auf Mund gedrückt,

Das nur stillt mein Sehnen.

Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke Band 1, Leipzig 1846, S. 199-201.
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