Minchen beim Grabe ihrer Mutter

[405] Da liegt, ach Gott! da drunten liegt

Die zärtlichste der Mütter!

Und ich, ans Todtenkreuz geschmiegt,

Starr' hier und klage bitter.


O Mutter, Mutter, die du mich

Am Herzen hast getragen,

Wo bist du? gute Mutter, sprich,

Hörst du auch meine Klagen?


Hör doch, dein Minchen jammert hier!

Umfaßt dein Grab mit Thränen;

O solltest du dich nicht nach mir,

Nach deinem Minchen sehnen?


Schau, wie ich in die Welt hinein

So ganz verlassen walle;

In diesem kleinen Bündelein

Sind meine Güter alle.


»Dich segne Gott, dich segne Gott,«

Sprachst du mit leisem Stammeln;

»Vertrau nur ihm, dich wird der Tod

Bald wieder zu mir sammeln.


Nimm diese Bibel, oft hab' ich

Mit Thränen sie benetzet;

Ach! über alles hab' ich dich,

Du theures Buch, geschätzet.


Sei, liebes Minchen, tugendhaft

Und leb' ein Engelleben;

Ach! Jesus Christus wird dir Kraft

Zu jeder Tugend geben.


O, Herzensminchen, schlüpfrig ist

Die Bahn, auf der du wandelst;

Wenn du nicht fromm und redlich bist,

Und gut und edel handelst.[406]


Flieh jede kleine Erdenlust,

Mein Geist soll dich umschweben.

Und wenn du eine Sünde thust,

So wirst du heimlich beben.


Doch bist du gut, so wird ein Wind

In deinen Locken spielen,

Und tief im Herzen, wirst du, Kind,

Des Himmels Säuseln fühlen.«


So sprachst du, Mutter, sahst auf mich,

Und bleich ward deine Wange;

Ich aber bog mich über dich

Und schrie und heulte lange.


Da lieg' ich nun, da lieg' ich nun

Gestreckt auf deinem Grabe;

O Mutter! neben dir zu ruhn,

Erfleh mir diese Gabe.


Doch nein, ich richte mich empor;

Gott will ich lassen walten;

Wenn ich die Mutter gleich verlor,

Kann Er mich doch erhalten.


So will ich denn mein Bündelein

Mit schwachen Händen fassen;

Kann Gott ein armes Waiselein,

Das ihm vertraut, verlassen?


Nun liebe Mutter, gute Nacht!

Dein Geist soll um mich wehen,

Wenn der und Gottes Auge wacht,

Was kann mir Leids geschehen?


Bald kommt vielleicht der liebe Tod,

Ach heute stürb' ich lieber;

Dann bin ich frei von aller Noth

Und flieg zu dir hinüber.[407]


Bleib' ich nur keusch, und gut, und fromm,

So wirst du mit der Miene

Der Engel sprechen: Tochter, komm,

Komm, liebe Wilhelmine!

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 405-408.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
S Mmtliche Gedichte, Volume 1
S Mmtliche Gedichte, Volume 3
Gedichte. Aus der

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Die Serapionsbrüder

Die Serapionsbrüder

Als Hoffmanns Verleger Reimer ihn 1818 zu einem dritten Erzählzyklus - nach den Fantasie- und den Nachtstücken - animiert, entscheidet sich der Autor, die Sammlung in eine Rahmenhandlung zu kleiden, die seiner Lebenswelt entlehnt ist. In den Jahren von 1814 bis 1818 traf sich E.T.A. Hoffmann regelmäßig mit literarischen Freunden, zu denen u.a. Fouqué und Chamisso gehörten, zu sogenannten Seraphinen-Abenden. Daraus entwickelt er die Serapionsbrüder, die sich gegenseitig als vermeintliche Autoren ihre Erzählungen vortragen und dabei dem serapiontischen Prinzip folgen, jede Form von Nachahmungspoetik und jeden sogenannten Realismus zu unterlassen, sondern allein das im Inneren des Künstlers geschaute Bild durch die Kunst der Poesie der Außenwelt zu zeigen. Der Zyklus enthält unter anderen diese Erzählungen: Rat Krespel, Die Fermate, Der Dichter und der Komponist, Ein Fragment aus dem Leben dreier Freunde, Der Artushof, Die Bergwerke zu Falun, Nußknacker und Mausekönig, Der Kampf der Sänger, Die Automate, Doge und Dogaresse, Meister Martin der Küfner und seine Gesellen, Das fremde Kind, Der unheimliche Gast, Das Fräulein von Scuderi, Spieler-Glück, Der Baron von B., Signor Formica

746 Seiten, 24.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon