Sanftmuth

[87] Aus den Wolken zieht ein Weben

Labend über Wälder hin,

Und es fühlt der Mensch sein Leben,

Still erwacht sein innrer Sinn.


Wie der Strom sich niedersenket

Und die Süße von sich giebt,

Wird die matte Brust getränket,

Und sie fühlet, daß sie liebt.


Durch die weiten Sternenräume

Dringt der liebevolle Sinn,

Und wie Engel steigen Träume

Auf der Leiter her und hin.


Ferne glimmt auf goldnen Bahnen

Noch ein heller Funke schön,

Und ein sehnsuchtvolles Ahnen

Will zur Lichtesblüthe gehn.
[88]

Berg und Waldung, Strom und Fluren

Thaun als Wolke um ihn her,

Ausgelöscht sind alle Spuren,

Er vergeht im wüsten Meer.


Und kein Halt will ihm erscheinen,

Alles flieht und zieht so weit,

Alle Quellen fühlt er weinen,

Einsam steht er in der Zeit.


Ach, wo bleiben meine Freuden,

Die Gespielen meiner Lust?

Wollt ihr alle mich vermeiden?

Klagt er, und verschließt die Brust.


Alles will um mich zerrinnen,

Mir entfliehet die Gestalt,

Steigt in meine tiefsten Sinnen

Schon die Hölle schwarz und kalt.
[89]

Alles, was mir freundlich blühte,

Ist in sich zurück geflohn,

Was mein Busen kindlich glühte;

Ausgelöscht ist jeder Ton.


Wo ich ehemals gelüstend

Ordnung und die Liebe sah,

Steht das Chaos jetzt verwüstend

Meiner bangen Seele nah.


Fern und ferner zieht das Sehnen

Der entflohnen Liebe nach,

Kaum geblieben sind die Thränen,

Noch des Busens tiefes Ach! –


Und er wend't sich mit den Blicken

In die schwarze Wolkennacht,

In der Finstre wird ein Zücken

Wie ein Blitzen angefacht.
[90]

Und aus den Gewändern dunkel,

Aus den Wolken, Berg und Wald,

Schaut mit heimlichem Gefunkel

Zu ihm her ein Auge bald.


Und sein Herze wird ein Blicken

In des Auges ew'ges Bild,

Nichts kann ihm den Wink entrücken,

Alle Sehnsucht ist gestillt.


Nun ist ihm die Welt entschwunden,

Ewig blickt das Auge süß,

Dessen Locken er empfunden,

Und sein Herz ist ihm gewiß.


Dieser fragt nach keinen Künsten,

Die ihm Welt und Zeit verheißt,

Er verschmacht't in Liebesbrünsten,

Und in Gott entfleußt der Geist.

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 1, Heidelberg 1967, S. 87-91.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Vollst Ndige Sammlung Klassischer Und Volksth Mlicher Deutscher Romanzen Und Balladen Aus Dem 18. Und 19. Jahrhundert: Vollst Ndige Sammlung Klassischer Und Volksth Mlicher Deutscher Gedichte Aus Dem 18. Und 19. Jahrhundert, Volume 2 (Paperback)(German) - Common
Vollst Ndige Sammlung Klassischer Und Volksth Mlicher Deutscher Romanzen Und Balladen Aus Dem 18. Und 19. Jahrhundert: Vollst Ndige Sammlung Klassischer Und Volksth Mlicher Deutscher Gedichte Aus Dem 18. Und 19. Jahrhundert, Volume 1 (Paperback)(German) - Common
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Schriften in zwölf Bänden: Band 7: Gedichte
Schriften in zwölf Bänden: Band 7: Gedichte

Buchempfehlung

Strindberg, August Johan

Gespenstersonate

Gespenstersonate

Kammerspiel in drei Akten. Der Student Arkenholz und der Greis Hummel nehmen an den Gespenstersoirees eines Oberst teil und werden Zeuge und Protagonist brisanter Enthüllungen. Strindberg setzt die verzerrten Traumdimensionen seiner Figuren in steten Konflikt mit szenisch realen Bildern. Fließende Übergänge vom alltäglich Trivialem in absurde Traumebenen entlarven Fiktionen des bürgerlich-aristokratischen Milieus.

40 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon