21. An Selma

[189] 29. Oktober 1773.


Spräche Hesperus nach, Selma, wie oft er mich

Am gedämpften Klavier trocknen die Augen sah,

Wenn von Händel und Hasse

Mir vehmütiger Trost erklang;


O du schontest fürwahr deines bekümmerten

Freundes, bärgst mir den Wunsch, welcher um mich, um mich!

In den Irren des Tiefsinns

Dir den zitternden Busen hob.
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Ist gleich redlich mein Herz, schwingt sich empor mein Geist

Zu dem strahlenden Kranz edler Unsterblichkeit;

Dennoch bin ich nicht deines

Wunsches, beste der Mädchen, wert!


Dir zur Seit', im Gedüft blühender Schatten dort,

Jede Schöne des Mais, mit dem verschönernden,

Selbst durch Selma verschönten,

Kleist, zu atmen, verbeut mein Loos!


Wie der Saiten Musik vor dem beseelteren

Ach! der Sängerin schweigt; schwinge mir Lied und Lenz,

Wenn dein rosiger Mund mir

Spräche himmlischen Harfenlaut!


Tritt mit jenem Gesicht, wenn du den heitern Blick

In dein Innerstes senkst, vor den Allmächtigen:

Bald erfüllt sind die Träume,

Die dorthin mich beflügelten.


An dem rötlichen Baum, wo du im Abendglanz

Philomelen behorchst, und an die Schwester denkst,

Naht urplötzlich dein Bruder,

Und ein Fremder an seiner Hand.


Selma! wenn dir alsdann schnelle Vergessenheit

Deiner leichteren Tracht, wenn dir der Wange Glut,

Und des klopfenden Herzens

Ahndung sagte, daß ich es sei!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 49, Stuttgart [o.J.], S. 189-190.
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