Kern [2]

[434] Kern (Zentralkern) bedeutet den Teil einer Querschnittsfläche, innerhalb dessen der Angriffspunkt einer Normalkraft P liegen muß, damit alle im Querschnitt auftretenden Spannungen dasselbe Vorzeichen haben wie die Kraft P.

Es ist dies von Bedeutung bei Baustoffen, deren Fertigkeiten auf Zug und Druck sehr verschieden sind, vor allem bei gemauerten Bauwerken, weil deren Zugfestigkeit verhältnismäßig gering ist. Nennt man die Linie des Querschnitts, in der die Normalspannung Null ist, die Nullinie, so ist nach der Lehre von der Biegung der Angriffspunkt der Normalkraft N der Antipol der Nullinie hinsichtlich der Zentralellipse des Querschnitts (vgl. Bd. 1, S. 198). Läßt man nun eine gerade Linie als Nullinie so um die Querschnittsfigur gleiten, daß sie diese beständig berührt, ohne sie je zu schneiden, so beschreibt der Antipol dieser Linie oder der zugehörige Angriffspunkt der Kraft eine geschlossene Figur, die man Kern oder Zentralkern nennt. Wegen der Gegenseitigkeit der Spannungen ergibt sich auch der Kern als Umhüllung aller Nullinien, wenn der Angriffspunkt die Umhüllung des Querschnitts beschreibt.

Greift also die Normalkraft N innerhalb des Kerns an, so liegt die Nullinie außerhalb der Querschnittsfigur, und der Baustoff wird durchgehends in gleichem Sinne (entweder auf Zug oder auf Druck) beansprucht. Greift dagegen die Kraft außerhalb des Kerns an, so schneidet die Nullinie die Querschnittsfigur, folglich wird ein Teil des Querschnitts auf Zug, der andre auf Druck in Anspruch genommen. Die Höhe der Kernfigur nennt man Kernhöhe, den obersten und untersten Punkt derselben Kernpunkte, die Entfernung des Querschnittsschwerpunktes von einem Punkte des Kernumfanges Kernradius oder Kernweite. Die Verbindungslinien der Kernpunkte in einem Gewölbe oder Bogen heißen Kernlinien.

Die Anwendung des Kerns ist eine mehrfache. Sollen im Innern eines gemauerten Bogens keine Zugspannungen vorkommen, so muß die Drucklinie (s.d.) so verlaufen, daß sie an keiner Stelle aus dem Kern des Querschnitts heraustritt. Da gemauerte Bögen (Gewölbe) in der Regel rechteckigen Querschnitt besitzen und die Kernhöhe bei einem Rechtecke dem dritten Teil der Rechteckhöhe gleich ist (vgl. unten), so ergibt sich die Regel, daß die Drucklinie eines Gewölbes durchgehends im inneren Drittel der Gewölbestärke liegen soll (vgl. Gewölbe, graphische Berechnung). Sodann können die Kernpunkte in Verbindung mit der Kämpferdrucklinie (s.d.) bei vollwandigen Bogenträgern, sowohl bei gemauerten wie bei eisernen, zur Bestimmung der ungünstigsten Belastungen dienen. Verbindet man bei einem Bogen mit Kämpfergelenken den oberen Kernpunkt eines Querschnitts mit den Gelenkpunkten, so schneiden die Verbindungslinien auf der Kämpferdrucklinie die Belastungsgrenzen (s.d.) für die untere Kante des Querschnitts ab. Verbindet man den unteren Kernpunkt mit den Gelenkspunkten, so erhält man die Belastungsgrenzen für die obere Querschnittskante. Bei Bogen ohne Gelenke zieht man, um die Belastungsgrenzen zu finden, aus den Kernpunkten Tangenten an die Umhüllungslinien des Bogens (vgl. Bd. 2, S. 146 und 157). Eine dritte Anwendung findet der Kern bei der Berechnung der größten in einem Querschnitte auftretenden Spannungen (vgl. Kernformel). – Die Form des Kerns kann, wenn die Trägheitsellipse bekannt ist, leicht auf zeichnerischem Wege gefunden werden. Rechnerisch bestimmt man die Kernform bei symmetrischen Querschnitten mittels der Formel k = i2 : e, wo k den Kernradius, i den entsprechenden Trägheitsradius und e die Entfernung der Querschnittstangente[434] vom Schwerpunkt bedeutet. Die Figuren 1–9 zeigen die Trägheitsellipsen und die Kerne für eine Anzahl in der Technik vorkommender Figuren. Das Trägheitsmoment eines Rechteckes ist für die wagerechte Schwerpunktsachse bekanntlich J = 1/12 b h3 und die halbe Höhe der Trägheitsellipse i = (J : F) = h √1/12 Setzt man e = 1/2 h, so wird der lotrechte Kernradius k = i2 : e =1/6 h und die Kernhöhe = 1/3 h. Beim Dreieck ist der Kern ein der Querschnittsform ähnliches Dreieck und seine Höhe gleich 1/4 h. Der Kern eines Kreises ist wieder ein Kreis; sein Durchmesser ist 1/4 d.


Literatur: Winkler, Die Lehre von der Elastizität und Festigkeit, Prag 1867/68; Culmann, Die graphische Statik, 2. Aufl., Zürich 1875; Ritter, W., Anwendungen der graphischen Statik, 1. Teil, Zürich 1888; Land, Zeitschr. f. Bauw. 1892, S. 549; Keck, Vorträge über Elastizitätslehre, Hannover 1893; Lang, Zeitschr. des Hannov. Arch.- und Ing.-Ver. 1895, S. 159; Müller-Breslau, Graphische Statik, Bd. 1, Stuttgart 1905.

Mörsch.

Fig. 1., Fig. 2., Fig. 3., Fig. 4.
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Fig. 5., Fig. 6., Fig. 7., Fig. 8., Fig. 9.
Fig. 5., Fig. 6., Fig. 7., Fig. 8., Fig. 9.
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 5 Stuttgart, Leipzig 1907., S. 434-435.
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434 | 435
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