Träger [4]

[590] Träger, zusammengesetzte (kombinierte) oder kombinierte Systeme nannte man früher häufiger als jetzt Tragwerke, welche aus zwei oder mehreren ungleichartigen Teilen, wie Kette und Versteifungsbalken, Bogen und Zugstange, Bogen und Balken u.s.w., bestehen (vgl. Hängebrücken, Bogen mit Zugstange, Bogensehnenträger, Hängewerke und armierte Balken, Sprengwerke, Träger, armierte).

Die meisten bisher ausgeführten oder vorgeschlagenen Konstruktionen dieser Art sind statisch unbestimmt, d.h. sie lassen sich nicht durch die Statik allein, sondern nur mit Hilfe der Elastizitätslehre berechnen, und es kommt dann vor allem darauf an, die statisch unbestimmten Größen X (Stützenreaktionen, Stabkräfte u.s.w., vgl. Fachwerke, statisch unbestimmte, Verschiebungsarbeit) zu berechnen, worauf die gewöhnlichen Beziehungen für die auftretenden Balken, Bogen, Ketten, Fachwerke u.s.w. (s.d. und bei veränderlicher Belastung Grenzwerte, Einflußlinien) zum Ziele führen. Eine Berechnungsart der X soll im folgenden angedeutet werden, während die unten angeführte Literatur auch andre Verfahren aufweist.

Der Träger bestehe zu einem Teile I aus lediglich axial beanspruchten geraden Stäben (z.B. Fachwerkstäben), für welche s, F, E, S, α, τ Länge, konstanten Querschnitt, Elastizitätsmodul, Stabkraft, Ausdehnungskoeffizient und Temperaturänderung bezeichnen, zu einem Teile II aus geraden oder einfach gekrümmten Stäben, für welche F, J, E, G, k, Mx, Nx, Tx, α, τ, ds Querschnitt, Trägheitsmoment, Elastizitätsmodul, Schubelastizitätsmodul, Koeffizient der Schubwirkung (Bd. 1, S. 797), Angriffsmoment, Normalkraft, Transversalkraft (Bd. 1, S. 197), Ausdehnungskoeffizient, Temperaturänderung und Achsdifferential beim Querschnitt der Abszisse x vertreten. Die S, Nx seien positiv für Zug, die Mx, wenn sie, wie der Zeiger der Uhr, rechts um den Achspunkt des Querschnitts x drehen. U möge die Arbeit der mit ihren Endwerten konstant gedachten statisch unbestimmten Reaktionen gegen den betrachteten Träger oder Trägerteil während der eingetretenen Verrückungen (Formänderungen vom spannungslosen Zustande aus gerechnet) und ∂U die Aenderung von U bei konstanten Verrückungen infolge irgend einer mit den statischen Bedingungen verträglichen Aenderung einer beliebigen statisch unbestimmten Größe X bezeichnen (vgl. Bd. 3, S. 553, und Verschiebungsarbeit). Dann hat man unter den gewöhnlichen Voraussetzungen der Lehren von Zug-, Druck- und Biegungselastizität (s.d.) zur Berechnung der Größe X:


Träger [4]

worin sich die Summen vom Index I und II auf alle Stäbe der Gruppen I und II beziehen. Für Stäbe der letzteren Gruppe kann auch Mx = 0 (vgl. Ketten) oder Nx = 0 (vgl. Balken) sein. Da ebensoviel Gleichungen 1. als unbekannte Größen X angesetzt werden können, so lassen sich alle X daraus berechnen. Der Einfluß der Transversalkräfte Tx auf die Beanspruchungen ist meist so gering, daß er gewöhnlich vernachlässigt wird, womit das Glied mit Tx wegfällt. Ausdrücke entsprechend 1. für beliebige isotrope Körper und andre Fälle s. Verschiebungsarbeit und [8].

Es handle sich beispielsweise um ein beliebiges Bogenfachwerk (s.d.) einfachen Systems (s. Fachwerk, Bd. 3, S. 534) mit Endgelenken, bei welchem der Horizontalschub H, anstatt durch die Widerlager, durch eine horizontale Zugstange zwischen den Endgelenken aufgenommen wird. Gleichung 1. liefert mit U = 0 als Bedingung für X = H:


Träger [4]

worin sich die Summe Σ nur auf die Stäbe des Bogenfachwerks bezieht, während für die Zugstange S = H und zur Unterscheidung E, F, α', τ' statt E, F, α, r gesetzt wurden. Werden nun die Stabkräfte des Bogenfachwerks bei beliebigem H ausgedrückt und die Differentialquotienten dieser Ausdrücke nach H gebildet (für die Bd. 2, S. 162 angeführten Stabkräfte beispielsweise wären ∂ Xm/∂ H = ± n zm xm/l hm u.s.w.), so liefert 2. mit diesen Werten das gesuchte H. Etwaige Hängestangen zur Vermeidung des Durchhängens der Zugstange haben keinen Einfluß auf H, weil für sie ∂ S/∂ H in 2. gleich Null ist. Im vorliegenden Falle konnte[590] der Träger auch als Fachwerk mit einem überzähligen Stabe angesehen und X nach Bd. 3, S. 555, Formel 16 berechnet werden.

Besteht der Träger aus einem stabförmigen Bogen mit Endgelenken, dessen Horizontalschub durch eine horizontale Zugstange anstatt durch die Widerlager aufgenommen wird (s. Bogen mit Zugstange), so liefert 1. mit U = 0 unter Vernachlässigung des bei Bogen stets sehr geringen Einflusses von Tx zur Bestimmung von X = H:


Träger [4]

wobei –Nx an Stelle von Nx gesetzt wurde, so daß, wie bei Sprengbogen üblich, drückende Nx als positiv gelten. Für beliebige Belastung hat man im vorliegenden Falle die statischen Beziehungen (s. Bogen):


Träger [4]

wonach in 3. ∂Mx/∂H = – y, ∂Nx/∂H = cos φ und nach 3. die Bedingungsgleichung für H lautet:


Träger [4]

Die Integration ist erst ausführbar, wenn Bestimmung über y, φ, F, J, d.h. über die Form der Bogenachse und die Veränderlichkeit des Querschnitts, getroffen ist. Werte von H für parabolische Bogen von konstantem J cos φ (Mittelwert), Halbkreisbogen von konstantem F und Bogen mit beliebiger Achse und beliebigen Querschnitten s. [12], S. 157, 222.

Für eine Kette mit Versteifungsfachwerk (vgl. Hängebrücken), bei welcher wie gewöhnlich freie Horizontalbewegung der Kabelsättel angenommen, eine Bewegung der Kabel über letztere hinweg ausgeschlossen und der Einfluß der Längenänderungen von Pylonen und Tragstangen vernachlässigt sein soll, hat man nach 1. zur Berechnung von X = H aus den Verhältnissen einer Oeffnung l, mit U = H Δ l (U ist positiv, wenn die Verrückung, hier Δl, in der Richtung der Reaktion, hier H, erfolgt) und ∂ U/∂ H = Δl:


Träger [4]

oder wegen


Träger [4]

In 5., 6. ist ΣI auf alle Fachwerkstäbe zu erstrecken. Wenn Δl nicht gleich Null (feste Kabelenden) oder sonst bekannt ist (Beobachtung, Schätzung), so muß Gleichung 6. für jede Oeffnung ausgedrückt und H aus der Bedingung Δl, + Δl2 + ... + Δln = ΔL = 0 berechnet (vgl. Bd. 4, S. 715), oder schon 6. anstatt für eine Oeffnung für den ganzen Träger angesetzt werden.

Auf Grund von 1. sind auch die in den Art. Sprengwerke und Hängewerke vorkommenden statisch unbestimmten Größen X vom Verfasser ermittelt. In vielen Fällen wird man die in 1. auftretenden Größen, soweit möglich, bei beliebigen X numerisch ausdrücken und dementsprechend auch die Differentiale nach den X bilden.


Literatur: [1] Langer, Theorie der kombinierten Brückensysteme und Dachstühle, Prag 1873–74 (1. Aufl. 1862). – [2] Castigliano, Théorie de l'équilibre des systèmes élastiques et ses applications, Turin 1880, S. 287, 315, 321, 328, 352, 362, 377, 390, 398 (deutsche Ausgabe, Wien 1886, S. 286, 316, 323, 330, 354, 364, 379, 391, 399). – [3] Krohn, Berechnung der durch einen Balken (Fachwerk) versteiften Hängebrücke auf Grund der Deformation der einzelnen Fachwerkstäbe, Zivilingenieur 1881, S. 347. – [4] Brik, Die neue Ferdinandsbrücke in Graz (Bogen mit untenliegendem Versteifungsfachwerk), Zeitschr. d. Oesterr. Ing.- u. Arch.-Ver. 1883, S. 43. – [5] Müller-Breslau, Theorie des durch einen Balken verstärkten steifen Bogens, Zivilingenieur 1883, S. 13. – [6] Ders., Beitrag zur Theorie der Versteifung labiler und flexibler Bogenträger, Zeitschr. f. Bauwesen 1883, S. 312. – [7] Ders., Beitrag zur Theorie des durch einen Balken versteiften Bogens, ebend. 1884, S. 323. – [8] Weyrauch, Aufgaben zur Theorie elastischer Körper, Leipzig 1885, S. 211, 213, 221 (vgl. Wochenbl. f. Arch. u: Ing. 1884, S. 290). – [9] Winkler, Theorie der Brücken, 1. Heft, Wien 1886, S. 185 (Verbindung des Balkens mit dem Stabpolygon, S. 233, 256). – [10] Hoch, Berechnung der doppelten Häng- und Sprengwerke bei einseitiger Belastung, Zentralblatt der Bauverwaltung 1888, S. 474. – [11] Landsberg, Berechnung freitragender Wellblechdächer (Bogen mit Zugstange), Zeitschr. f. Bauwesen 1891, S. 387. – [12] Weyrauch, Die elastischen Bogenträger, ihre Theorie und Berechnung entsprechend den Bedürfnissen der Praxis, München 1897, S. 157, 190, 222 (neue Auflage in Vorbereitung). – [13] Ritter, Anwendungen der graphischen Statik, III, Zürich 1900, S. 201 (Hänge- und Sprengwerke). – [14] Müller-Breslau, Die graphische Statik der Baukonstruktionen, II, 1, Leipzig 1903, S. 243, 265, 286, 290, 295, 418, 433; II, 2, Leipzig 1908, S. 341, 392, 429,525. – [15] Ders., Die neueren Methoden der Festigkeitslehre, Leipzig 1904, S. 21, 55, 195. – [16] Bohny, Theorie und Konstruktion der Hängebrücken, Leipzig 1905. – [17] Müller, S., Beiträge zur Theorie[591] hölzerner Tragwerke des Hochbaues, I, Hängewerke und Sprengwerke, Zeitschr. f. Bauwesen 1906, S. 678. – [18] Handbuch der Ingenieurwissenschaften, II, Der Brückenbau, 4. Abt.: Bewegliche Brücken, Leipzig 1907, S. 17, 152; 5. Abt.: Eiserne Bogenbrücken und Hängebrücken, Leipzig 1906, S. 17, 180. – S.a. Bogen mit Zugstange, Bogensehnenträger, Hängebrücken, Hängewerke, Sprengwerke, Fachwerke, statisch unbestimmte, Träger, armierte, Verschiebungsarbeit.

Weyrauch.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 8 Stuttgart, Leipzig 1910., S. 590-592.
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