Indikatrix

[799] Indikatrix (Dupinscher Kegelschnitt), ein von dem französischen Mathematiker Charles Dupin (1784–1873) angegebenes Hilfsmittel, um die Art der Krümmung, die eine Fläche in irgend einem ihrer Punkte besitzt, einfach zu charakterisieren. Man denke sich nämlich in einem Punkte P der Fläche die zu dieser gehörige Tangentialebene E konstruiert (s. Tangente) und ferner eine zu E parallele Ebene E', die von E einen außerordentlich kleinen Abstand hat; die Kurve, in der E' die Fläche schneidet, gewährt dann eine Vorstellung davon, wie sich die Fläche in der Nähe des Punktes P verhält. Liegt die Fläche in der Nähe von P ganz auf der einen Seite der Tangentialebene[799] E und wählt man E' auf dieser Seite von E, so ist der Schnitt zwischen E' und der Fläche eine unendlich kleine geschlossene Kurve von der Gestalt einer Ellipse (s. d.), liegen dagegen die Punkte der Fläche in der Nähe von P auf beiden Seiten der Tangentialebene E, so ist der Schnitt zwischen E' und der Fläche eine Kurve, die aus zwei Ästen besteht und die wenigstens in der Nähe von P einer Hyperbel gleicht. Im ersten Fall ist die Fläche im Punkte P gekrümmt wie ein Ellipsoid (s. d.), und P heißt daher ein elliptischer Punkt der Fläche, im zweiten ist sie sattelförmig gekrümmt (wie ein einschaliges Hyperboloid, s. d.), und der Punkt P heißt hyperbolisch. Ist die Gleichung der Fläche gegeben, so kann man die Gleichung der Schnittkurve zwischen E' und der Fläche berechnen, und die Methoden der Differentialrechnung zeigen, daß die erwähnte Schnittkurve, wenn man gewisse sehr kleine Größen vernachlässigt, wirklich als eine ganz bestimmte Ellipse oder Hyperbel erscheint, daß sie aber auch für gewisse Punkte der Fläche (die sogen. parabolischen Punkte) in zwei parallele Gerade ausartet. Auf einer abwickelbaren Fläche (s. unten) sind alle Punkte parabolisch. Zieht man durch P die zur Tangentialebene senkrechte Gerade, die Normale der Fläche in P, und legt man durch diese Normale eine Ebene, so heißt die Schnittkurve dieser Ebene und der Fläche ein zu P gehöriger Normalschnitt der Fläche. Jeder solche Normalschnitt hat in P eine bestimmte Krümmung (s. d.), namentlich sind die durch die beiden Hauptachsen (s. Kegelschnitte) der I. gehenden Normalschnitte dadurch ausgezeichnet, daß ihre Krümmung ein Maximum oder Minimum ist (s. Maximum); sie heißen die zu P gehörigen Hauptschnitte der Fläche, und ihre zu P gehörigen Krümmungshalbmesser ǫ1 und ǫ2 sind die Hauptkrümmungshalbmesser der Fläche im Punkte P. Die reziproken Werte 1: ǫ1 und 1: ǫ2 von ǫ1 und ǫ2 stellen dann die Krümmungen der beiden Hauptschnitte in P dar, und das Produkt 1: ǫ1ǫ2 dieser Krümmungen nennt man das zu P gehörige Gaußsche Krümmungsmaß der Fläche. Gauß hat nämlich bewiesen, daß dieses Krümmungsmaß seinen Zahlenwert nicht ändert, wenn man die Fläche ohne Dehnung verbiegt oder deformiert, d. h. wenn man die Fläche derart in eine andre Fläche verbiegt, daß jeder auf der ursprünglichen Fläche gezogenen Kurve eine Kurve von derselben Länge auf der neuen Fläche entspricht. Zwei Flächen, von denen die eine auf diese Weise in die andre verbogen werden kann, nennt man auch auseinander abwickelbar; insbes. sind die Flächen, deren Krümmungsmaß in jedem Punkte verschwindet, alle auf die Ebene abwickelbar und heißen daher abwickelbare Flächen (s. d.) im engern Sinne. Das Gaußsche Krümmungsmaß ist positiv oder negativ, je nachdem die Krümmungskreise der beiden Hauptschnitte auf derselben Seite der Tangentialebene des Punktes P liegen oder nicht, im ersten Fall ist P ein elliptischer Punkt, im zweiten ein hyperbolischer. Hat das Krümmungsmaß für alle Punkte der Fläche denselben Zahlenwert, so hat man eine sogen. Fläche konstanter Krümmung, die einfachste Fläche dieser Art ist die Kugel. Neben dem Produkt 1: ǫ1ǫ2 der Krümmungen des Hauptschnittes betrachtet man auch deren Summe: 1/ǫ1+1/ǫ2 und nennt diesen Ausdruck die mittlere Krümmung der Fläche im Punkte P. Einzelne Mathematiker haben auch versucht, andre aus ǫ1 und ǫ2 gebildete Ausdrücke als Krümmungsmaß an Stelle des Gaußschen einzuführen, jedoch ohne Erfolg. Ist die I. des Punktes P ein Kreis, so haben in P alle Normalschnitte der Fläche gleiche Krümmung und P ist ein sogen. Nabelpunkt (Kreispunkt) der Fläche. Eine auf der Fläche liegende Kurve, die in jedem ihrer Punkte die eine der beiden Hauptachsen der zu dem Punkt gehörigen I. zur Tangente hat, heißt eine Krümmungslinie der Fläche; durch jeden Punkt der Fläche gehen zwei solche Krümmungslinien etc. Näheres in den Lehrbüchern der Differentialrechnung, besonders in denen der Flächentheorie (s. Oberflächen).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 799-800.
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