Jugendspiele

[356] Jugendspiele. Das Spiel (s. d.), d. h. sinnvolle, aber nur zur Erheiterung und Unterhaltung, nicht zur Schaffung bleibender Güter bestimmte und dadurch von der Arbeit unterschiedene Tätigkeit, ist für gesunde Menschen unentbehrlich, so daß nur Art und Maß dieser Tätigkeit fraglich sein können. Besonders bedeutsam ist das Spiel für die unmündige Jugend, die eigentlicher Arbeit noch unfähig ist. Selbst die Erziehung zur Arbeit nimmt bei ihr mehr oder weniger die Gestalt des Spieles, einer an sich unfruchtbaren und wertlosen, nur für geistige Anregung wie für Entwickelung der Kraft und Geschicklichkeit diensamen Übung an. Daher Erziehung und Spiel (paideía-paidia) bei den alten Griechen verwandte Namen tragen, Kinderschule und Spiel (ludus) bei den Römern geradezu mit demselben Worte bezeichnet wurden. Dennoch ist der alte Gedanke (schon bei Platon), daß die Kinder am besten spielend lernen, nur zum Teil wahr und schon bei der Jugend Arbeit und Spiel trotz aller Verwandtschaft sehr wohl zu unterscheiden. Beide jedoch erheischen gleiche Aufmerksamkeit der Erzieher. Wenn im ganzen jene mehr der Schule (dem Lehrer), dieses dem Hause (Eltern) angehört, so darf doch die Scheidung keine schroffe sein. Namentlich die Bewegungsspiele der Jugend, die von den stillern Geistes- und Gesellschaftsspielen (Schach, Brettspiele, Rat- und Pfänderspiele, Schauspiele) sich deutlich abheben, hat auch die öffentliche Schulerziehung sorgsam zu beachten. Aus der Geschichte der Erziehung sind in dieser Hinsicht ganz besonders im Altertum die Griechen, in der neuern Zeit die Engländer zu beachten, die dem gymnastischen J. ernste Pflege und breiten Raum, ja geradezu Gleichberechtigung mit der geistigen Erziehung gewähren. In Deutschland traten bereits im 18. Jahrh. die Philanthropen, besonders Guts Muths, im Beginne des 19. Jahrh. Frd. L. Jahn für kräftigende J. ein, denen denn auch seither an vielen Erziehungsanstalten und Schulen warme Pflege im engern oder weitern Anschluß an den Turnunterricht zuteil ward. Doch war man in weiten Kreisen überzeugt, daß für diese gute Sache noch weit mehr geschehen müßte. Daher fand der Erlaß des preußischen Kultusministers v. Goßler[356] vom 27. Okt. 1882, der dieser Überzeugung entschiedenen Ausdruck gab, allgemeinen freudigen Widerhall in ganz Deutschland. Der infolge davon erwachende Wetteifer knüpfte sein Bemühen teils an die längst betriebenen Turnspiele, teils suchte er das englische Jugendspiel mutatis mutandis nach Deutschland zu verpflanzen. Aus diesen beiden Strömungen sowie aus dem Übereifer der einen, welche die J. zum pflichtigen Bestandteile des Unterrichts (mindestens an höhern Schulen) machen möchten, und der Skeptik der andern bildet sich allmählich in Deutschland eine feste mittlere Tradition, für die besonders das tatkräftige Vorgehen der städtischen Schulen in Görlitz (Abgeordneter v. Schenckendorff, Gymnasialdirektor Eitner) und Braunschweig (Professor Koch), die ermunternde Teilnahme zahlreicher städtischer und staatlicher Schulbehörden und der 40. Versammlung der Philologen und Schulmänner Deutschlands (Görlitz 1889) sowie die Gründung des Deutschen Vereins für Jugend- und Volksspiele (1891) und seines Zentralausschusses maßgebend geworden sind. In Görlitz, Braunschweig u. a. O. finden jährlich Kurse zur Ausbildung von Lehrern für Pflege der J. statt, die außerdem für die Volksschule (Knaben und Mädchen) in den durch die Verhältnisse bedingten Schranken die Lehrerseminare in Deutschland eifrig anstreben. Nach statistischer Erhebung des genannten Vereins war das Jugendspiel in engerm oder loserm Anschluß an den Schulbetrieb 1893 bereits in 543 deutschen Städten eingeführt. Vgl. Guts Muths, Spiele zur Übung und Erholung des Körpers und Geistes (8. Aufl. von Lion, Hof 1893); Mittenzwey, Das Spiel im Freien (2. Aufl., Leipz. 1897), Das Spiel im Zimmer (das. 1887) und Die Pflege der Bewegungsspiele (das. 1896); Koch, Wodurch sichern wir das Bestehen der Schulspiele? (das. 1887); Lausch, Sammlung beliebter Kinderspiele (6. Aufl., das. 1899); W. Meyer, Nationale Wettspiele (Hannover 1888); Raydt, Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper. Englische Schulbilder in deutschem Rahmen (das. 1889) und Die deutschen Städte und das Jugendspiel (das. 1891); Kohlrausch u. Marten, Turnspiele nebst Anleitung zu Wettkämpfen und Turnfahrten (6. Aufl., das. 1898); Kupfermann Turnunterricht und J. (Bresl. 1884); Güßfeldt, Erziehung der deutschen Jugend (3. Aufl., Berl. 1890); Eitner, Die J. (8. Aufl., Leipz. 1893); Lion und Wortmann, Katechismus der Bewegungsspiele (das. 1891); Zettler, Die Bewegungsspiele (Wien 1893); v. Woikowsky-Biedau, Das Bewegungsspiel in der deutschen Volkshygiene und Volkserziehung (Leipz. 1895); Trapp und Pinzke, Das Bewegungsspiel (7. Aufl., Langens. 1900); Hachmeister, J. in alter und neuer Zeit (Leipz. 1898); die »Schriften des Zentralausschusses zur Förderung der Volks- und J.«, darin das »Jahrbuch für Volks- und Jugendspiele« (das. 1891 f., seit 1904 u. d. T. »Wehrkraft durch Erziehung«); die »Zeitschrift für Turnen und Jugendspiel« (hrsg. von Schnell u. Wickenhagen, das. 1892 f., seit 1902 u. d. T.: »Körper und Geist«). Übrigens geht der deutschen Bewegung für die J. verwandtes Streben unter vielfacher Wechselwirkung auch in manchen andern Ländern zur Seite. Gedacht sei nur beispielsweise der musterhaft eingerichteten Spielgärten (speeltuins) in Amsterdam.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 10. Leipzig 1907, S. 356-357.
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