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Das Qualen-Kapitel

[644] 129

Ein jedes Wesen scheuet Qual,

Ein jedes Wesen flieht den Tod:

Erkenn' dich selbst in jedem Sein,

Und quäle nicht und töte nicht.


130

Ein jedes Wesen scheuet Qual,

Und jedem ist sein Leben lieb:

Erkenn' dich selbst in jedem Sein,

Und quäle nicht und töte nicht.


131

Wer mitleidslos die Wesen quält,

Die heiß begehren, so wie er,

Wohlauf zu sein und frohgemut,

Erlangt kein Wohl nach seinem Tod.


132

Wer mitleidsvoll kein Wesen quält,

Das heiß begehret, so wie er,

Wohlauf zu sein und frohgemut,

Erlanget Wohlsein nach dem Tod.


133

Zu keinem rede hart und rauh,

Leicht möchte er's erwidern dir;

Gar schmerzlich, ach! ist Zank und Streit,

Zu Tätlichkeiten kommt es bald.


[645] 134

Gelangst in Aufruhr nimmer du,

Gleich einer Glocke, die zersprang,

So hast Nibbānam du erreicht,

Kein Sturmgeläute gibt es mehr.


135

Gleichwie der Hirt die Herde mit

Dem Stocke in die Ställe treibt:

So treibt das Alter und der Tod

Die Lebenden dem Ende zu.


136

Verwerfliches begeht der Tor

Und denkt dabei nicht weiter dran:

Dann aber brennt die eigne Tat

Den Unbedachten glühend heiß.


137

Wer friedlos naht den Friedlichen,

Wer strafend quält die Straflosen,

Eilt zehnfach Üblem schleunig zu,

Zum einen oder anderen:


138

Er mag erfahren bittres Leid,

Verlust von Gütern und den Tod,

Es kann ihn treffen Irrsinns Nacht,

So wie auch schwerer Krankheit Qual;


139

Der König mag ihn vorladen

Und halten fürchterlich Gericht;

Sein Weib, sein Kind mag hinsiechen,

Sein Hab und Gut zugrunde gehn,


140

Verzehren und vernichtigen

Des Feuers Wut ihm Haus und Hof;

Und stirbt er, tritt der Ruh'lose

Ins Dasein in der Höllenwelt.


[646] 141

Nicht diese und nicht jene Büßerregel –

Entblößten Körpers sitzen, stehn und gehen,

Das Haar in Scheitelflechten aufzubinden,

Geweihte Zeichen auf die Stirne salben,

Zuweilen aller Nahrung sich enthalten,

Ekstatisch regungslos am Boden liegen,

Den Leib mit Asche, Staub und Mist bestreuen,

Auf seinen Fersen stetig auszuharren –

Kann läutern den, der noch Begehrung heget.


142

Und wenn auch einer schmuck und reinlich aussieht,

Beruhigt, friedreich, standhaft, keuschen Wandels,

Der keinem Wesen etwas Böses zufügt,

Der ist ein Brāhmane, ein Büßer, ist ein Jünger.


143

Gibt's einen Mann wohl in der Welt,

Des Schamgefühl so mächtig ist,

Daß jedem Anstoß er entgeht,

Gleichwie dem Sporn ein edles Roß?

Gleichwie ein edles Roß vom Sporn getroffen,

So seid ergriffen, eifrig, unermüdlich.


144

Durch recht Vertrauen, rechtes Leben, rechtes Streben,

Durch rechte Selbstvertiefung, rechte Seinsergründung,

Durch rechtes Wissen und durch rechten Wandel,

Stets einsichtvoll und gleichmütig verweilend,

Mögt überwinden ihr dies ganze Leiden.


145

Kanäle schlichten Bauern durch das Feld,

Die Bogner schlichten spitze Pfeile zu,

Die Zimmrer schlichten schlanke Balken ab,

Sich selber, wahrlich, machen Dulder schlicht.

Quelle:
Die Reden Gotamo Buddhos. Bd. 3, Zürich/Wien 1957, S. 644-647.
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