27. Kapitel

Eine Liebeserklärung

[233] Am Sonntagnachmittag war ich von jeher zur Schwermut geneigt gewesen. Warum? das ist mir nie klar geworden. Alles erschien mir dann farblos, das ganze Dasein verlor seinen Reiz. Die Stunden, die mich gewöhnlich leicht auf ihren Schwingen dahintrugen, büßten ihre Flugkraft ein, senkten sich gegen Ende des Tages zur Erde nieder und mußten mit aller Macht vorwärts geschleppt werden. War es vielleicht bis zu einem gewissen Grade eine durch Gewohnheit zur anderen Natur gewordene Ideenverbindung? Trotz der außerordentlichen Veränderung meiner Verhältnisse verfiel ich am Nachmittag meines ersten Sonntags im zwanzigsten Jahrhundert in tiefe Niedergeschlagenheit.

Diesmal hatte mich jedoch nicht bloße Niedergeschlagenheit ohne jede besondere Ursache überkommen, nicht jene unbestimmte Schwermut, die ich schon erwähnt habe. Nein, heute war meine Gemütsstimmung die Folge meiner Lage, und gewiß sehr berechtigt. Herr Barton hatte in seiner Predigt auf die tiefe moralische Kluft hingewiesen zwischen dem Jahrhundert, dem ich angehörte, und jenem, in dem ich nun lebte. Ihre Wirkung auf mich war, daß ich mich vereinsamter fühlte als bisher. Wenn der Prediger auch noch so maßvoll und philosophisch in seiner Rede gewesen[233] war, konnten doch seine Worte kaum verfehlen, in mir den Eindruck zu hinterlassen, daß ich als Vertreter eines verabscheuten Zeitalters bei meiner Umgebung ein Gefühl hervorrufen müsse, das aus Mitleid, Neugierde und Widerwillen gemischt war.

Auch meine Gastfreunde mußten in Wirklichkeit die Gefühle teilen, mit denen mich ihre Zeitgenossen betrachteten. Daß ich mir darüber bis jetzt noch nicht klar geworden war, lag lediglich an der außerordentlichen Freundlichkeit, mit der ich von Doktor Leete und seiner Familie behandelt wurde, und vor allem an Ediths Güte. Nun aber, nach Herrn Bartons Predigt, war ein Zweifel nicht mehr möglich. So schmerzlich auch diese sich aufdrängende Erkenntnis war, ich hätte mich doch mit ihr so gut es ging abgefunden, soweit Doktor Leete und seine liebenswürdige Gattin in Frage kamen. Allein, es war mehr, als ich zu ertragen vermochte, daß sich mir die Überzeugung aufdrängte, auch Edith müsse diese Gefühle teilen.

Die niederschmetternde Wirkung dieser verspäteten Erkenntnis einer so einleuchtenden Tatsache öffnete meinen Blick für etwas, das der Leser vielleicht bereits vermutet hat: ich liebte Edith.

Erscheint dies etwa seltsam? Man erinnere sich der ergreifenden Szene, seit der wir uns nähergetreten waren, als ihre Hand mich aus dem Strudel des Wahnsinns riß; der Tatsache, daß ihre Sympathie der Lebensodem war, der mich in meinem neuen Dasein aufgerichtet hatte und mir die Kraft verlieh, es zu ertragen; meiner Gewohnheit, in ihr die Mittlerin zwischen mir und der mich umgebenden Welt in einem Maße zu sehen, daß selbst ihr Vater sie nicht zu ersetzen vermochte! Konnte das ausbleiben, was schon durch die Lieblichkeit ihrer Erscheinung und ihres Wesens genügend erklärt worden wäre? Es war ganz unvermeidlich, daß sie mir als das einzige Weib auf Erden erscheinen mußte, und das in ganz anderem Sinne, als es sonst bei Liebenden der Fall zu sein pflegt. Jetzt, wo mir plötzlich zum Bewußtsein gekommen war, welch eitle Hoffnungen ich zu hegen begonnen hatte, litt ich nicht bloß, was ein anderer Liebender gelitten haben würde. Ich wurde dazu noch von einem Gefühl trostlosester Einsamkeit und größter Verlassenheit befallen, das kein[234] anderer Liebender hätte empfinden können, und wäre er noch so unglücklich gewesen.

Meine Wirte bemerkten offenbar meine gedrückte Stimmung und taten ihr Bestes, mich zu zerstreuen. Wie ich wohl sehen konnte, war besonders Edith meinetwegen bekümmert. Aber eine Freundlichkeit, die nur Mitleid war – wie ich mir sagen mußte –, hatte nach der törichten Art der Liebenden keinen Wert mehr für mich, seitdem ich wahnsinnig genug gewesen war, zu träumen, das junge Mädchen könnte mir mehr als bloße Sympathie schenken.

Nachdem ich den größten Teil des Nachmittags auf meinem Zimmer verbracht hatte, ging ich gegen Abend in den Garten, um etwas auf und ab zu spazieren. Der Tag war trübe, herbstlicher Duft erfüllte die warme, stille Luft. Als ich an die Stelle der Ausgrabung kam, trat ich in das unterirdische Gemach und ließ mich dort nieder. »Dies«, sagte ich zu mir selbst, »ist die einzige Heimstatt, die ich habe. Hier will ich bleiben und sie nie mehr verlassen.« Mit Hilfe der vertrauten Umgebung suchte ich einen traurigen Trost darin, daß ich mich bemühte, die Vergangenheit ins Leben zurückzurufen und die Gestalten und Gesichter derer heraufzubeschwören, die mir in meinem früheren Dasein nahegestanden hatten. Es war vergeblich. Diese Gestalten hatten kein Leben mehr. Seit fast hundert Jahren hatten die Sterne auf Edith Bartletts Grab, auf die Gräber meines Geschlechts herabgeblickt.

Die Vergangenheit war tot, sie lag zermalmt unter der Last eines Jahrhunderts, und von der Gegenwart war ich ausgeschlossen. Nirgends gab es einen Platz für mich. Ich war weder tot noch eigentlich lebendig.

»Verzeihen Sie, daß ich Ihnen gefolgt bin.«

Ich blickte auf. Edith stand in der Türe des unterirdischen Gemachs und schaute mich lächelnd an, aber mit Blicken voll bekümmerter Teilnahme.

»Schicken Sie mich fort, wenn ich Ihnen lästig falle«, sagte sie. »Ihre Verstimmung ist uns nicht entgangen. Sie wissen doch, daß Sie mir versprochen haben, in einem solchen Falle zu mir zu kommen. Sie haben nicht Wort gehalten.«

Ich erhob mich und ging auf die Türe zu, indem ich zu lächeln versuchte, was mir jedoch gewiß herzlich schlecht gelang, denn der Anblick[235] von Ediths holder Gestalt ließ mich die Ursache meines Elends nur noch tiefer empfinden.

»Ich fühlte mich ein wenig einsam, das ist alles«, sagte ich. »Ist Ihnen nie der Gedanke gekommen, daß ich infolge meiner eigentümlichen Lage so mutterseelenallein dastehe, wie nie ein menschliches Wesen zuvor? Man müßte ein eigenes Wort erfinden, um mein Gefühl der Vereinsamung zu beschreiben.«

»Oh, so dürfen Sie nicht reden! ... Sie dürfen sich nicht solchen Gefühlen hingeben! Sie dürfen nicht«, rief Edith mit feuchten Augen aus. »Sind wir nicht Ihre Freunde? Es ist Ihre eigene Schuld, wenn Sie uns nicht gestatten wollen, das zu sein! Sie brauchen sich nicht einsam zu fühlen!«

»Sie sind unendlich gütig zu mir«, sagte ich, »aber glauben Sie denn, ich weiß nicht, daß es bloßes Mitleid ist, was Sie bewegt, süßes Mitleid, aber doch nur Mitleid? Ich müßte ein Narr sein, wollte ich mir verhehlen, daß ich Ihnen nicht wie andere Männer Ihrer Zeit erscheinen kann. Ich muß in Ihren Augen ein seltenes, unheimliches Wesen sein, ein aus unbekanntem Meer an den Strand geworfenes Geschöpf, dessen Hilflosigkeit trotz seiner Absonderlichkeit Ihr Mitleid erregt. Sie waren so gütig, und ich war so töricht, daß ich beinahe vergaß, es müsse notwendigerweise so sein, daß ich mir einbildete, ich könnte mit der Zeit – wie wir es zu nennen pflegten – Bürgerrecht in Ihrer Gesellschaft erlangen, mich als einen der Ihrigen fühlen und Ihnen wie die anderen Männer Ihrer Umgebung erscheinen. Allein Herrn Bartons Predigt hat mir gezeigt, wie eitel ein solcher Wahn ist, und wie groß Ihnen die Kluft zwischen uns erscheinen muß.«

»Oh, diese unselige Predigt!« rief Edith aus, indem sie vor Mitgefühl laut aufweinte. »Ich wollte ja, daß Sie den Vortrag gar nicht hören sollten. Was weiß Herr Barton von Ihnen? Er hat in alten, verstaubten Büchern über Ihre Zeit gelesen, das ist alles. Warum legen Sie seinen Worten Gewicht bei? Warum lassen Sie sich durch irgend etwas bekümmern und aufregen, was er sagt? Ist es Ihnen denn nichts wert, daß wir, die wir Sie kennen, anders empfinden? Liegt Ihnen nicht mehr daran, was wir über Sie denken, als was er meint, der Sie nie gesehen hat? Ach, Herr[236] West, Sie wissen nicht, Sie können sich nicht denken, wie tief es mich schmerzt, Sie so traurig zu sehen. Ich kann es nicht ertragen! Was kann ich sagen, wie soll ich Sie davon überzeugen, daß wir ganz anders für Sie fühlen, als Sie glauben?«

Wie damals, als sie in jener ersten, entscheidungsvollen Stunde meines Lebens zu mir gekommen war, streckte sie mir mit Hilfe verheißender Gebärde die Hände entgegen. Wie damals ergriff ich ihre Hände und hielt sie in den meinen fest. Wie stark Edith erschüttert war, das ließ das Wogen ihres Busens, das Zittern der Finger erkennen, die in meiner Hand ruhten. Ihre Züge verrieten ihre feste Entschlossenheit, in einer Art göttlichem Trotz gegen alles anzukämpfen, was sich ihrem hilfsbereiten Mitleid hemmend entgegenstellen würde. Weibliches Erbarmen war sicherlich nie in holderer Gestalt erschienen.

Solcher Schönheit und solcher Güte vermochte ich nicht zu widerstehen. Es schien mir, daß unter den Umständen die einzig geziemende Antwort das Aussprechen der vollen Wahrheit sei. Natürlich hatte ich auch nicht einen Funken von Hoffnung, mein Gefühl erwidert zu sehen, aber ich fürchtete auch nicht, daß das Geständnis meiner Liebe Edith erzürnen könnte. Sie war zu mitfühlend, als daß dies möglich gewesen wäre. So sagte ich ihr denn: »Es ist höchst undankbar von mir, daß ich mich nicht mit der Güte begnüge, die Sie mir erzeigt haben und auch jetzt noch erzeigen. Aber sind Sie so blind, daß Sie nicht sehen, warum Ihre Güte nicht genug ist, mich glücklich zu machen? Sehen Sie nicht, daß es daher kommt, weil ich so wahnsinnig bin, Sie zu lieben?«

Bei meinen letzten Worten errötete Edith tief und schlug die Augen nieder, aber sie machte keinen Versuch, mir ihre Hände zu entziehen. So stand sie einige Augenblicke schwer atmend vor mir, dann ergoß sich dunklere Glut als je zuvor über ihre Wangen, und sie schaute mit berückendem Lächeln zu mir auf.

»Sind Sie sicher, daß Sie nicht selbst blind sind?«

Das war alles, was sie sprach, aber es war genug. So unerklärlich, so unglaublich es auch schien, die holde Tochter eines goldenen Zeitalters hatte mir nicht nur ihr Mitleid, sondern ihre Liebe geschenkt. Trotzdem glaubte ich, nur ein beseligender Traum hatte mich umfangen, selbst als[237] ich Edith in meine Arme schloß. »Wenn ich von Sinnen bin, so laß es mich bleiben«, rief ich aus.

»Ich bin es, die Sie von Sinnen halten müssen«, sagte sie bebend und entwand sich meinen Armen, als ich kaum ihre Lippen berührt hatte. »Oh, was müssen Sie nur von mir denken, daß ich mich jemand fast an den Hals werfe, den ich erst seit einer Woche kenne! Sie sollten meine Liebe nicht so bald erfahren, aber ich litt so viel um Sie, daß ich nicht wußte, was ich sagte. Nein, nein, Sie dürfen mich nicht eher berühren, als bis Sie wissen, wer ich bin. Dann, mein Herr, sollen Sie mich demütig um Verzeihung dafür bitten, daß Sie sich einbilden konnten, ich hätte mich zu schnell in Sie verliebt; ich weiß ja nur zu gut, daß Sie sich das einbilden. Wenn Sie erst wissen, wer ich bin, werden Sie gestehen müssen, daß es ganz einfach meine Pflicht war, mich auf den ersten Blick in Sie zu verlieben. Kein Mädchen mit Herz würde an meiner Stelle anders gehandelt haben.«

Man kann sich wohl vorstellen, daß ich herzlich gern alle Erklärungen für später aufgespart hätte. Allein Edith war fest entschlossen, mir nicht eher einen Kuß zu gewähren, bis sie von jedem Verdacht gereinigt sei, mir vorschnell ihre Liebe geschenkt zu haben. Ich war also gezwungen, dem lieblichen Rätsel ins Haus zu folgen. Als wir zu Ediths Mutter gekommen waren, flüsterte das junge Mädchen dieser errötend etwas ins Ohr und eilte fort, uns allein zurücklassend.

Wie merkwürdig auch mein Geschick bisher erschienen war, jetzt erst zeigte sich, daß ich den wunderbarsten Umstand noch nicht einmal erfahren hatte. Frau Leete erzählte mir, daß Edith die Urenkelin keiner anderen war, als meiner verlorenen Braut, Edith Bartlett. Vierzehn Jahre lang hatte diese mich betrauert, dann schloß sie eine Ehe aus Freundschaft, aus der ein Sohn entsprossen war: Frau Leetes Vater. Frau Leete hatte ihre Großmutter nie gesehen, aber viel von ihr gehört, und als ihr eine Tochter geboren wurde, so gab sie ihr den Namen Edith. Dieser Umstand mochte das Interesse erhöht haben, das das heranwachsende Mädchen an allem nahm, was ihre Urahne betraf, ganz besonders aber an dem traurigen Geschick des geliebten Mannes, dessen Weib diese werden sollte, und der kurz vor der Hochzeit seinen Tod vermutlich in[238] den Flammen seines Hauses gefunden hatte. Die Erzählung davon war wohl geeignet, das Mitgefühl jedes romantischen jungen Mädchens zu erwecken, wie viel tiefer aber mußte sie nicht Edith ergreifen, in deren Adern das Blut der unglücklichen Heldin floß! Zu den Familienerbstücken gehörten ein Bild Ediths Bartletts und von ihr hinterlassene Papiere, darunter ein Paket meiner Briefe. Diese gaben Edith Anhalt, sich eine bestimmte Vorstellung von meiner Person zu bilden, und alles zusammen hielt in ihr die traurige alte Geschichte lebendig. Sie pflegte ihren Eltern halb scherzend zu sagen, daß sie nicht eher heiraten werde, als bis sie einen Geliebten wie Julian West gefunden hätte, und solche gäbe es heutzutage nicht mehr.

Natürlich entsprangen solche Äußerungen nur den Träumen eines Mädchens, dessen Herz noch nie gesprochen hatte, und sie würden bedeutungslos geblieben sein, hätte man nicht an jenem Morgen im Garten das verschüttete Gemach entdeckt und herausgefunden, wen es beherbergte. Denn als man die anscheinend leblose Gestalt ins Haus getragen hatte, erkannte man sofort, daß das Bild in dem Medaillon auf meiner Brust das Edith Bartletts war. Hieraus sowie aus einem Zusammentreffen anderer Umstände noch schloß man, daß ich niemand anders sein könne als Julian West. Nach Frau Leetes Ansicht würde das Ereignis auf das ganze Leben ihrer Tochter einen entscheidenden Einfluß ausgeübt haben, auch wenn – wie dies anfänglich schien – jeder Gedanke an meine Wiederbelebung ausgeschlossen gewesen wäre. Unter den obwaltenden Umständen würde es wohl den meisten Frauen wie Edith ergangen sein: der Gedanke, daß eine geheimnisvolle Bestimmung des Schicksals ihr Los mit dem meinigen verbinde, hätte sich wahrscheinlich auch ihrer mit unwiderstehlicher Gewalt bemächtigt.

Frau Leete erinnerte noch an anderes. Von dem Augenblick an, wo ich einige Stunden später ins Leben zurückgekehrt war, hatte ich für ihre Tochter eine besondere Anhänglichkeit gezeigt und in ihrer Gesellschaft augenscheinlich einen besonderen Trost gefunden. Ich möge alle diese Umstände berücksichtigen und dann selbst urteilen, ob Edith mir beim ersten Zeichen meiner Liebe allzu schnell die ihrige geschenkt habe. Sollte ich dies trotz alledem meinen, so dürfe ich eins nicht vergessen:[239] daß wir jetzt nicht im neunzehnten Jahrhundert, sondern im zwanzigsten Jahrhundert lebten, wo die Liebe sicherlich schneller entstehe und freimütiger bekannt werde als damals.

Von Frau Leete ging ich zu Edith. Als ich sie gefunden hatte, war mein erstes, sie bei beiden Händen zu ergreifen und lange und entzückt anzuschauen. Und während ich mich in die Betrachtung ihres Antlitzes verlor, es Zug um Zug prüfte, lebte in mir die Erinnerung an die andere Edith wieder auf. Das entsetzliche Ereignis, durch das wir auseinandergerissen worden waren, hatte diese Erinnerung bisher etwas verdunkelt, nun kam sie überwältigend zurück, und mein Herz schmolz in zärtlichen, wehmutsvollen und doch gleichzeitig sehr seligen Gefühlen. Sie, die mich meinen Verlust so tief empfinden machte, sollte ihn mir ja auch ersetzen! Es schien mir, als ob aus ihren Augen Edith Bartlett in die meinen blickte und mir Trost zulächelte. Mein Los war nicht nur das wunderbarste, sondern auch das seligste, das je einem Manne zugefallen ist. Ein zwiefaches Wunder war für mich geschehen. Ich war nicht an den Strand dieser fremden Welt geschleudert worden, um mich hier einsam und ohne Gefährten zu finden. Die verloren geglaubte Geliebte war mir zum Troste in einer neuen Gestalt erstanden. Als ich endlich von Dankbarkeit und Zärtlichkeit hingerissen das holde Mädchen in meine Arme schloß, da verschmolzen für mich die beiden Ediths zu einer einzigen, und ich habe sie seitdem nie wieder klar voneinander unterscheiden können. Bald bemerkte ich, daß auch Edith in gleicher Weise die beiden Persönlichkeiten miteinander zusammenwarf und verwechselte. Sicherlich ist nie zwischen Liebenden, die sich soeben erst gefunden hatten, ein so seltsames Gespräch geführt worden als das unsrige an jenem Abend. Es schien Edith mehr daran zu liegen, daß ich von meiner ehemaligen Braut, als daß ich von ihr selbst spräche. Anstatt daß ich von meiner Liebe zu ihr selbst reden konnte, mußte ich ihr erzählen, wie ich Edith Bartlett geliebt habe, und sie belohnte meine leidenschaftlichen Worte, die einem anderen Weibe galten, mit Tränen, zärtlichem Lächeln und Händedrücken.

»Du darfst mich nicht zu sehr um meiner selbst willen lieben«, sagte sie. »Ich werde für sie sehr eifersüchtig sein. Ich werde nicht zulassen, daß du sie vergißt. Ich will dir etwas sagen, was dir vielleicht seltsam[240] erscheinen mag. Glaubst du nicht, daß Geister zuweilen in die Welt zurückkehren, um ein Werk zu vollbringen, das ihnen besonders am Herzen lag? Was sagst du dazu, daß ich manchmal gedacht habe, ihr Geist lebe in mir, Edith Bartlett, und nicht Edith Leete sei mein wahrer Name? Ich kann nicht wissen, ob es wirklich so ist, denn niemand von uns weiß ja, wer wir in Wirklichkeit sind, aber ich fühle es, daß Edith Bartlett in mir lebt. Kannst du dich über diese meine Empfindungen wundern, wo du doch weißt, wie mein Leben durch dich und durch sie beeinflußt worden ist, noch ehe du zu uns kamst? Du brauchst dir nicht einmal Mühe zu geben, mich zu lieben, du mußt ihr nur treu bleiben. Ich werde wohl kaum je eifersüchtig auf sie werden.«

Doktor Leete war an jenem Nachmittag abwesend, und so hatte ich erst später eine Unterredung mit ihm. Offenbar war er nicht ganz unvorbereitet auf die Mitteilung, die ich ihm machte. Als Antwort schüttelte er mir herzlich die Hand.

»Unter gewöhnlichen Umständen, Herr West, würde ich sagen, daß dieser Schritt nach ziemlich kurzer Bekanntschaft erfolgt, in unserem Falle aber kann wirklich nicht von gewöhnlichen Umständen die Rede sein. Offen gestanden, muß ich sagen«, fügte er lächelnd hinzu, »daß Sie sich mir nicht allzusehr verpflichtet zu fühlen brauchen, wenn ich, meine freudige Zustimmung gebe. Wie mir scheint, ist meine Einwilligung eine bloße Formalität. Von dem Augenblick an, wo Ihr Medaillon das Geheimnis verraten hatte, mußten die Dinge kommen, wie sie gekommen sind. Wahrhaftig: wenn Edith nicht dagewesen wäre, um das Gelöbnis ihrer Urahne einzulösen, ich fürchte wirklich, daß die Treue meiner Frau eine harte Probe zu bestehen gehabt hätte.«

Der Garten war abends vom Mondschein überflutet, und bis Mitternacht wandelten Edith und ich auf und ab und suchten uns an unser Glück zu gewöhnen.

»Was würde ich getan haben, wenn ich dir gleichgültig geblieben wäre?« rief sie aus. »Ich fürchtete, daß du dich nicht um mich bekümmern würdest. Was hätte ich angefangen, da ich doch fühlte, ich sei für dich bestimmt! Sobald du wieder zum Leben erwachtest, da war ich so fest davon überzeugt, als hätte sie selbst es mich geheißen, daß ich dir sein[241] müsse, was sie dir nicht sein konnte. Aber das war doch nur möglich, wenn du mich an ihre Stelle treten ließest. An dem Morgen, wo du dich so entsetzlich fremd unter uns fühltest, hätte ich dir, ach! wie gern gesagt, wer ich bin. Allein ich durfte ja das Wunderbare nicht über meine Lippen kommen lassen, ich konnte auch nicht zulassen, daß meine Eltern dir davon sprachen –«

»Das muß es gewesen sein, was dein Vater nicht sagen sollte«, rief ich aus, indem ich auf die Unterhaltung anspielte, die ich bei meinem Erwachen aus dem Starrkrampf belauscht hatte.

»Natürlich«, lachte Edith. »Hast du das jetzt erst erraten? Da mein Vater doch auch nur ein Mann ist, so vermeinte er, dich damit unter uns heimisch zu machen, daß er dir sagte, wer wir wären. An mich dachte er dabei überhaupt gar nicht. Aber die Mutter verstand meine Gedanken, und so ließ man mir meinen Willen. Ich hätte dir nie ins Gesicht sehen können, wenn du gewußt hättest, wer ich bin. Es wäre doch darauf hinausgelaufen, mich dir allzu dreist aufzudrängen. Ich fürchte, du wirst denken, daß ich dies heute getan habe. Glaube mir, daß dies keineswegs meine Absicht war. Ich weiß, daß man zu deiner Zeit von einem Mädchen erwartete, es müsse seine Gefühle verbergen, und so schwebte ich stets in großer Furcht, dir durch mein Benehmen Anstoß zu geben. Ach, wie schwer muß es doch damals für die Mädchen gewesen sein, ihre Liebe stets wie ein Verbrechen zu verheimlichen! Warum hielten sie es denn für eine Schande, jemand zu lieben, ehe dieser selbst es ihnen erlaubte? Wie komisch ist doch die Vorstellung, daß man die Erlaubnis abwarten mußte, sich zu verlieben! War es den Männern jener Zeit vielleicht unangenehm, wenn junge Mädchen sie liebten? Ich meine sicher, daß die Frauen heutzutage ganz anders empfinden, und ebenso die Männer, denke ich. Ich verstehe überhaupt nicht, warum die Frauen damals gezwungen waren, ihre Liebe zu einem Manne zu verbergen. Es erscheint mir dies ganz sonderbar, und du wirst mir in späteren Tagen die Gründe dafür erklären müssen. Ich glaube nicht, daß Edith Bartlett so töricht wie ihre Zeitgenossinnen war.«

Nach mehreren vergeblichen Versuchen, Abschied voneinander zu nehmen, bestand Edith darauf, daß wir uns doch endlich gute Nacht sagen[242] müßten. Ich stand im Begriff, den »wirklich letzten Kuß« auf ihre Lippen zu drücken, als sie mir mit unbeschreiblicher Schalkhaftigkeit sagte:

»Eines beunruhigt mich. Bist du auch sicher, daß du Edith Bartlett ihre Ehe mit einem anderen völlig vergeben hast? Nach den auf uns gekommenen Büchern scheinen die Liebenden deiner Zeit mehr Eifersucht als wirkliche Liebe empfunden zu haben, und das veranlaßt mich zu meiner Frage. Es wäre mir eine große Beruhigung, wenn ich gewiß sein könnte, daß du nicht im geringsten eifersüchtig auf meinen Urgroßvater bist, weil dieser deine Geliebte heimgeführt hat. Wenn ich mein Zimmer aufsuche, darf ich dann dem Bilde meiner Urgroßmutter sagen, daß du ihr ihre Untreue völlig vergibst?«

Wird mir der Leser glauben, daß der schelmische Stich – mochte es Ediths Absicht gewesen sein oder nicht – mich wirklich traf? Aber gerade dadurch heilte er mich von einem törichten, schmerzlichen Gefühl, einer Art Eifersucht, die ich unbestimmt empfand, seitdem mir Frau Leete von Edith Bartletts Verheiratung erzählt hatte. Bis zu dem Augenblick, wo Edith Leete mich neckte, und sogar als ich die Urenkelin meiner ehemaligen Braut in den Armen hielt, hatte ich mir nicht klar vorgestellt, daß ich ohne diese Heirat jetzt nicht ein glücklich Liebender sein könnte. So unlogisch sind manche unserer Gefühle! Die Verkehrtheit meines eifersüchtigen Empfindens war jedoch nicht größer als die Schnelligkeit, mit der es verschwand, als Ediths mutwillige Frage den Nebel aus meinem Geiste scheuchte. Lachend küßte ich sie.

»Du kannst sie«, sagte ich, »meiner völligen Verzeihung versichern, obschon die Sache ganz anders liegen würde, wenn sie einen anderen als deinen Urgroßvater geheiratet hätte.«

Es war mir schon zur Gewohnheit geworden, sobald ich des Nachts mein Zimmer betrat, das Musiktelephon zu öffnen, damit es mich durch seine besänftigenden Klänge in Schlaf einlulle. Heute ließ ich den elektrischen Knopf unberührt. Meine Gedanken waren mir die beste Musik, mit der sich selbst die der Orchester des zwanzigsten Jahrhunderts nicht zu messen vermochte, und diese Musik hielt mich in ihrem Zauberbann bis gegen Morgen, wo ich endlich einschlief.[243]

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 233-244.
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