26. Kapitel

Die Predigt eines sozialistischen Geistlichen

[216] Wenn meiner Meinung nach jemand zu entschuldigen war, daß er die Reihe der Wochentage vergaß, so war ich es in meiner Lage. In der Tat, nach allem, was ich bereits vom zwanzigsten Jahrhundert gehört und gesehen hatte, würde es mich durchaus nicht überrascht haben, wenn man mir gesagt hätte, daß die Art der Zeitrechnung völlig verändert worden sei, und daß man die Tage nicht mehr in Gruppen von sieben, sondern von je fünf, zehn oder fünfzehn zusammenfasse. Am Morgen nach dem im letzten Kapitel erzählten Gespräch fiel es mir zum erstenmal ein,[216] mich nach dem Wochentag zu erkundigen. Beim Frühstück fragte mich nämlich Doktor Leete, ob ich wohl eine Predigt hören möchte.

»Es ist heute also Sonntag!« rief ich aus.

»Jawohl«, erwiderte er. »Am Freitag vor acht Tagen waren wir so glücklich, die Entdeckung des verschütteten Zimmers zu machen, der wir verdanken, daß wir uns heute morgen in Ihrer Gesellschaft befinden. Am Sonnabend, kurz nach Mitternacht, schlugen Sie zum erstenmal die Augen auf, und Sonntagnachmittag erwachten Sie zum zweitenmal und mit völlig wiederhergestellten Kräften.«

»So gibt es also bei Ihnen noch Sonntage und Predigten«, sagte ich. »Wir hatten Propheten, die weissagten, daß die Welt schon lange vor dieser Zeit mit beiden aufgeräumt haben werde. Ich bin doch begierig, wie sich die Kirche in Ihre übrige Gesellschaftsordnung einfügt. Wie ich vermute, haben Sie eine Art Nationalkirche mit staatlich angestellten Geistlichen.«

Doktor Leete lachte, und Frau Leete sowie Edith schienen von meiner Frage sehr belustigt.

»Aber, Herr West«, sagte Edith, »für welch wunderliche Heilige müssen Sie uns halten! Sie waren bereits im neunzehnten Jahrhundert über eine Staatsreligion und die mit ihr zusammenhängenden Einrichtungen hinaus, und Sie meinen, wir seien jetzt dazu zurückgekehrt?«

»Aber wie vertragen sich freie Kirchen und Geistliche, die nicht vom Staate angestellt werden, damit, daß alle Gebäude Nationaleigentum sind und allgemeine Arbeitspflicht für alle besteht?« fragte ich zurück.

»Die Formen der Religionsübung des Volkes haben natürlich im Laufe eines Jahrhunderts ganz erhebliche Veränderungen erfahren«, versetzte Doktor Leete, »aber selbst vorausgesetzt, daß dies nicht der Fall gewesen wäre, würden sie sich doch sehr gut unserer Gesellschaftsordnung anpassen können. Die Nation stellt gegen einen verbürgten Mietzins jedem einzelnen oder jeder Gruppe von Personen ein Gebäude zur Verfügung, das so lange benutzt werden darf, wie der Mietzins entrichtet wird. Was die Geistlichen anbelangt, so kann man sich ihre Amtstätigkeit genau auf die nämliche Weise sichern wie die Dienste eines Redakteurs.[217] Jeder beliebigen Anzahl von Bürgern steht es frei, sich die Dienste jemandes – seine Zustimmung natürlich vorausgesetzt – für einen besonderen persönlichen Zweck zu verschaffen, der mit der nationalen Arbeitspflicht nichts zu tun hat. Sie braucht nur auf Rechnung der betreffenden Kreditkarten der Nation eine Entschädigung dafür zu zahlen, daß sie dem Arbeitsheer die Arbeitskraft jener Persönlichkeit entzieht. Die der Nation entrichtete Entschädigung entspricht dem Gehalt, das zu Ihrer Zeit den Geistlichen usw. selbst gezahlt wurde. Die mannigfaltige Anwendung des angedeuteten Grundsatzes läßt der Privatinitiative auf all den Gebieten freien Spielraum, wo die Verstaatlichung nicht durchführbar ist. Wenn Sie heute eine Predigt hören wollen, so können Sie entweder in eine Kirche gehen oder auch zu Hause bleiben.«

»Wie kann ich predigen hören, wenn ich zu Hause bleibe?«

»Sie brauchen uns nur in das Musikzimmer zu begleiten und sich einen bequemen Platz auszusuchen. Es gibt zwar noch Leute, die Predigten lieber in der Kirche hören, aber meist werden unsere Predigten wie unsere Musikaufführungen nicht öffentlich gehalten, sondern in akustisch gebauten Räumen, die mit den Häusern der Abonnenten durch Telephonleitungen verbunden sind. Sollten Sie es vorziehen, in eine Kirche zu gehen, so werde ich Sie gern dahin begleiten, aber ich bin überzeugt, daß Sie wirklich nirgends eine bessere Rede hören würden als hier im Hause. Wie ich nämlich aus der Zeitung ersehen habe, predigt heute vormittag Herr Barton, und er predigt nur durch das Telephon. Seine Zuhörerzahl erreicht oft eine Höhe von einhundertfünfzigtausend.«

»Wenn kein anderer Grund mich veranlassen könnte, Herrn Barton zu lauschen, so würde mich schon die Neuheit des Experimentes bestimmen, eine Predigt unter solchen Umständen zu hören«, sagte ich.

Ein oder zwei Stunden später, als ich lesend in der Bibliothek saß, holte mich Edith ab. Ich folgte ihr in das Musikzimmer, wo Herr und Frau Leete schon warteten. Kaum hatten wir bequem Platz genommen, als es klingelte. Wenige Augenblicke darauf redete die Stimme eines Mannes in der Stärke des gewöhnlichen Gesprächstones zu uns, so daß es schien, als ob sie von einer unsichtbaren Person im Zimmer selbst ausginge. Die Stimme aber sprach also:[218]

»In der vergangenen Woche ist ein Kritiker aus dem neunzehnten Jahrhundert unter uns gekommen, ein lebender Vertreter der Zeit unserer Urgroßeltern. Es müßte wunderbar sein, wenn eine so ungewöhnliche Tatsache unsere Einbildungskraft nicht stark beeinflußt hätte. Sicherlich sind die meisten von uns durch sie zu dem Versuche angeregt worden, sich die Gesellschaft vorzustellen, wie sie vor hundert Jahren war, und sich klar zu machen, was es bedeutet haben muß, damals zu leben. Indem ich Sie nun ersuche, mit mir gewisse Betrachtungen anzustellen, die mir das Ereignis nahegelegt hat, nehme ich an, daß ich mehr dem Laufe Ihrer eigenen Gedanken folge, als ihn ablenke.«

Bei dieser Stelle der Predigt flüsterte Edith ihrem Vater etwas zu, worauf er zustimmend nickte und sich zu mir wandte.

»Herr West«, sagte er, »Edith meint, daß es Ihnen vielleicht peinlich sein könnte, eine Rede in dem Sinne zu hören, wie es von Herrn Barton angedeutet worden ist. Sollte dem so sein, so brauchen Sie deswegen nicht auf Ihre heutige Predigt zu verzichten. Wenn Sie es wünschen, so wird uns Edith mit Herrn Sweeters Predigtzimmer verbinden, und ich kann Ihnen auch für diesen Fall einen recht guten Vortrag versprechen.«

»Nein, nein!« erwiderte ich. »Glauben Sie mir, daß ich viel lieber hören möchte, was uns Herr Barton zu sagen hat.«

»Wie es Ihnen beliebt«, antwortete mein Wirt.

Als ihr Vater zu mir sprach, hatte Edith einen Knopf berührt, und Herrn Bartons Stimme war plötzlich verstummt. Jetzt, auf einen anderen Druck ihrer Hand, ward das Gemach von neuem mit den ernsten, sympathischen Lauten erfüllt, die bereits einen ungemein günstigen Eindruck auf mich gemacht hatten.

»Ich glaube annehmen zu dürfen, daß dieser Rückblick eine gleiche Wirkung auf uns alle ausgeübt hat: größer denn je ist unser Staunen über die wunderbare Wandlung, die ein kurzes Jahrhundert in der materiellen und moralischen Lage der Menschheit herbeigeführt hat.

Dennoch mag der Gegensatz zwischen der Armut unserer Nation und der Welt überhaupt im neunzehnten Jahrhundert und ihrem gegenwärtigen Reichtum vielleicht nicht größer sein als der Abstand zwischen der Armut und dem Reichtum verschiedener anderer Geschichtsperioden.[219] Nicht größer vielleicht zum Beispiel als der Gegensatz zwischen der Armut unseres Landes zur Zeit der ersten Kolonisation im siebzehnten Jahrhundert und dem verhältnismäßig großen Wohlstand, dessen es sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts erfreute; oder zwischen dem England Wilhelm des Eroberers und dem der Königin Viktoria. Gewiß war der Gesamtreichtum einer Nation damals ebensowenig wie jetzt ein genauer Maßstab für die Lage ihrer Volksgenossen. Allein Beispiele wie die angeführten ermöglichen uns doch eine teilweise Parallele zu der materiellen Seite des Gegensatzes, der zwischen dem neunzehnten und dem zwanzigsten Jahrhundert besteht. Erst wenn wir die moralische Seite des Gegensatzes zwischen den beiden Perioden betrachten, so finden wir uns einer Erscheinung gegenüber, mit der sich in der Geschichte nichts vergleichen läßt, so weit wir auch zurückblicken mögen. Man wäre beinahe versucht, auszurufen: ›Da muß ein Wunder geschehen sein!‹ Wenn wir jedoch das müßige Staunen lassen und an eine kritische Untersuchung des anscheinend Wunderbaren herantreten, so stellt sich heraus, daß es durchaus nichts Wunderbares, geschweige denn ein Wunder ist. Um die vorliegende Tatsache zu begreifen, braucht man nicht einmal eine moralische Wiedergeburt der Menschheit anzunehmen oder eine restlose Vernichtung aller Bösen und Erhaltung der Guten allein. Sie findet ihre einfache und einleuchtende Erklärung in der Rückwirkung veränderter Gesellschaftsverhältnisse auf die menschliche Natur. Sie bedeutet nichts anderes als dieses: Eine Gesellschaftsordnung, die auf den falsch verstandenen Interessen der Selbstsucht des einzelnen beruhte und an die gesellschaftsfeindlichen und tierischen Instinkte der menschlichen Natur appellierte, ist durch Einrichtungen ersetzt worden, die auf die wahren Interessen einer vernünftigen Selbstlosigkeit der einzelnen begründet sind, und die sich an die sozialen und edlen Triebe der Menschen wenden.

Meine Freunde, wenn Sie die Menschen wieder als die wilden Bestien sehen möchten, als die sie uns im neunzehnten Jahrhundert erscheinen, so brauchen Sie nur die alte wirtschaftliche und soziale Ordnung wieder einzuführen. Sie lehrte jeden einzelnen, in den Mitmenschen eine natürliche Beute zu sehen und seinen eigenen Gewinn in dem Verlust des Nächsten zu suchen. Ohne Zweifel glauben Sie, daß auch die bitterste[220] Not Sie nie in Versuchung geführt haben würde, von dem zu leben, was Ihre größte Gewandtheit oder Kraft anderen zu entreißen vermocht hatte, die ebenso bedürftig waren wie Sie selbst. Aber stellen Sie sich vor, daß Sie nicht bloß für Ihr eigenes Leben zu sorgen hätten, wie dann? Ich bin überzeugt, daß es unter unseren Vorfahren viele gegeben haben muß, die – wenn es sich bloß um ihr eigenes Leben gehandelt haben würde – lieber in den Tod gegangen wären, als daß sie sich mit Brot ernährt hätten, das sie dem Nächsten raubten. Aber das durften sie nicht. Teure Wesen hingen von ihnen ab. Der Mann liebte das Weib damals wie heute. Er hatte Kinder – Gott weiß, woher er den Mut nahm, Vater zu sein! Sie waren seinem Herzen gewiß ebenso teuer, wie uns unsere Kleinen sind, und er mußte sie ernähren, kleiden und erziehen. Die sanftesten Geschöpfe werden wild, wenn sie für Junge sorgen müssen, und in der wölfischen Gesellschaft von ehedem ließen gerade die zärtlichsten Gefühle den Kampf ums Brot besonders verzweifelt und erbittert entbrennen. Um derer willen, die auf ihn angewiesen waren, blieb dem Manne keine Wahl: er mußte sich in den schändlichen Kampf stürzen. Er mußte betrügen, übervorteilen, verdrängen, unter dem Werte einkaufen und über dem Werte verkaufen, das Geschäft vernichten, durch das der Nachbar seine Kleinen ernährte, die Leute verleiten, zu kaufen, was sie nicht kaufen wollten, und zu verkaufen, was sie nicht verkaufen durften, er mußte seine Arbeiter drücken, seine Schuldner peinigen und seine Gläubiger hinters Licht führen. Selbst wenn jemand leidenschaftlich und unter Tränen einen Weg suchte, seinen Lebensunterhalt zu erwerben und für seine Familie zu sorgen, ohne einen schwächeren Nebenbuhler zu verdrängen und ihm das Brot vom Munde wegzureißen, so war es doch schwer, ja unmöglich, einen solchen Weg zu finden. Sogar die Diener der Religion waren der nämlichen grausamen Notwendigkeit unterworfen. Während sie ihre Schäflein vor der Geldgier warnten, wurden sie von der Rücksicht auf ihre Familie gezwungen, stets den materiellen Lohn ihres Berufes im Auge zu behalten. Die Ärmsten! Sie hatten in der Tat eine schwere Aufgabe: sie sollten den Menschen Edelmut und Selbstlosigkeit predigen, während doch sie wie alle damals wußten, daß bei den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen jedermann zur[221] Armut verurteilt war, der diese Tugenden üben wollte. Sie stellten für die Lebensführung der Menschen Gesetze auf, die zu übertreten Gebot der Selbsterhaltung für jedermann war. Wenn diese würdigen Männer auf das unmenschliche Schauspiel rings in der Gesellschaft blickten, so wehklagten sie wohl über die Verderbtheit der Menschennatur –, als ob in solch einer Teufelsschule nicht auch Engel hätten entarten müssen! Ach, meine Freunde, glauben Sie mir, nicht jetzt, nicht in unserem glücklichen Zeitalter, erweist die Menschheit die ihr innewohnende Göttlichkeit. Nein, sie hat sie vielmehr in jenen bösen Tagen bewiesen, wo selbst der Kampf aller gegen alle ums Dasein, jener Kampf, der Barmherzigkeit in Torheit verkehrte, Edelmut und Güte nicht ganz von der Erde zu bannen vermochte.

Es ist nicht so schwer, die Verzweiflung zu begreifen, mit der bei der wilden Jagd nach Geld Männer und Frauen einander bekämpften und zerfleischten, die unter anderen Verhältnissen edel, wahr und redlich gewesen wären. Wir müssen uns vergegenwärtigen, was es damals hieß, Geld zu entbehren und die Folgen der Armut zu leiden! Armut bedeutete für den Körper Hunger und Durst, die Qualen der Hitze und Kälte, keine Fürsorge und Pflege in Zeiten der Krankheit, Arbeit ohne Ruh und Rast in Tagen der Gesundheit. In moralischer Hinsicht bedeutete sie Unterdrückung, Verachtung, geduldiges Ertragen von Schmach, Schande und Mißhandlung, rohen Umgang von Jugend auf, Verlust der kindlichen Unschuld, der weiblichen Anmut, der männlichen Würde. Für den Geist bedeutete sie Tod, das heißt Unwissenheit, Lähmung aller Fähigkeiten, die uns von den Tieren unterscheiden, Erniedrigung des Lebens zu einem Kreislauf körperlicher Vorgänge.

Ach, meine Freunde, wenn Ihnen nur die Wahl gelassen bliebe, entweder mit Ihren Kindern ein Geschick zu erleiden, wie ich es eben beschrieben habe, oder aber dem Reichtum nachzujagen, wie man es im neunzehnten Jahrhundert tat: wie lange, meinen Sie wohl, würde es dauern, bis Sie auf die Stufe der Moral Ihrer Vorfahren hinabgesunken wären?

Vor ungefähr zwei oder drei Jahrhunderten ward in Indien eine Tat der Barbarei verübt, und zwar unter so ungewöhnlich schrecklichen Umständen,[222] daß sie wahrscheinlich ewig unvergessen bleiben wird, obgleich ihr nicht viele als Opfer gefallen sind. Eine Anzahl englischer Gefangener wurde in einem Raum eingeschlossen, der nicht einmal für den zehnten Teil von ihnen Luft genug enthielt. Die Unglücklichen waren tapfere Männer, treue Kameraden, aber als sie zu ersticken drohten, vergaßen sie in ihrer Todesangst alles. Es entbrannte ein entsetzlicher Kampf aller gegen alle, denn jeder trachtete sich einen Weg zu einer der engen Öffnungen zu bahnen, wo es allein möglich war, einen Atemzug frischer Luft zu erhaschen. Es war ein Kampf, in dem Menschen zu Bestien wurden. Die Erzählung seiner Schrecken durch die wenigen Überlebenden erschütterte unsere Vorfahren so gewaltig, daß das entsetzliche Geschehnis noch ein Jahrhundert später in ihrer Literatur ein stehendes Beispiel für das höchste körperliche und moralische Elend blieb. Unsere Voreltern konnten schwerlich ahnen, daß uns je als das treffendste Bild ihrer eigenen Zeit das ›schwarze Loch zu Kalkutta‹ erscheinen würde, mit seinem Gedränge wahnsinniger Männer, die einander niederrissen und zu Boden traten, um einen Platz an den Luftlöchern zu erkämpfen. Und so grausig dieses Bild ist, es fehlt ihm doch noch ein Zug, um es ganz zutreffend zu machen. Das ›schwarze Loch zu Kalkutta‹ umschloß keine zarten Frauen, keine kleinen Kinder, keine Greise und Krüppel, es waren wenigstens nur starke Männer, die da litten.

Bedenken wir, daß die alte Ordnung der Dinge, von der ich rede, bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts geherrscht hat, während uns die ihr folgende neue Gesellschaftsordnung alt dünkt, weil bereits unsere Väter keine andere als sie gekannt haben. Wir können dann nicht umhin, über die Schnelligkeit zu erstaunen, mit der sich ein Umschwung vollzogen haben muß, der einschneidender war und wirkte als jeder frühere Emporstieg der Menschheit. Wenn wir jedoch einen Blick darauf werfen, wie es im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts um den Geist der Menschen stand, so wird unser Staunen zum großen Teil schwinden. Obgleich man nicht behaupten kann, daß in irgendeinem Lande zu jener Zeit die Geistesbildung im modernen Sinne des Wortes Gemeingut gewesen wäre, so konnte man das damals lebende Geschlecht im Vergleich zu früheren Generationen immerhin intelligent nennen. Selbst dieser verhältnismäßig[223] geringe Grad von Intelligenz hatte die unvermeidliche Folge, daß die gesellschaftlichen Übelstände allgemeiner empfunden und erkannt wurden als je zuvor, wenngleich in früheren Zeiten die sozialen Übel noch schlimmer, viel schlimmer gewesen waren. Erst das wachsende Verständnis der Massen ließ allgemein zum Bewußtsein kommen, wie unheilvoll die gesellschaftlichen Verhältnisse waren, gerade wie die Morgendämmerung die Verlotterung einer Umgebung aufdeckt, die im Dunkeln erträglich erscheinen mochte. Zwei Empfindungen waren es daher, die uns im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts aus der Literatur als Grundtöne entgegenklingen: das Mitleid mit den Armen und Unglücklichen und der Groll über die Untauglichkeit des sozialen Mechanismus, dem Elend der Menschen abzuhelfen. Daraus ergibt sich, daß den Besten jener Zeit ab und zu einem Blitze gleich die Erkenntnis aufging, wie unendlich scheußlich in moralischer Hinsicht das Schauspiel rings um sie war. Wir müssen sogar annehmen, daß tiefes, starkes Mitgefühl mit fremdem Leid manchen besonders feinfühligen und edlen Naturen das Leben geradezu zur Hölle gemacht hat.

Zwar waren die Menschen jener Zeit sehr weit davon entfernt, wie wir als praktisch leitenden Grundsatz die Idee anzuerkennen, daß die gesamte Menschheit durch ihre eigensten Lebensinteressen zu einer Einheit, einer einzigen Familie verbunden ist, daß tatsächlich alle Menschen Brüder sind. Dennoch würde man sehr mit der Annahme irren, daß sie nicht wenigstens ein ähnliches Gefühl gekannt hätten. Ich könnte aus damaligen Schriftstellern Stellen von großer Schönheit vorlesen, die beweisen, daß der Begriff der allgemeinen Brüderlichkeit von einigen wenigen klar erfaßt und ohne Zweifel von vielen dunkel geahnt wurde. Weiterhin dürfen wir nicht vergessen, daß das neunzehnte Jahrhundert wenigstens dem Namen nach christlich war. Es muß also aufgefallen sein, daß das gesamte Wirtschaftsleben der Gesellschaft die ausgesprochenste Verkörperung eines antichristlichen Geistes war, obgleich ich zugebe, daß diese Tatsache merkwürdig leicht ins Gewicht für viele gefallen ist, die sich Christen nannten.

Wir stoßen auf eine höchst merkwürdige Tatsache, wenn wir nachforschen, warum die Erkenntnis nicht schwerer wog, warum überhaupt die[224] Menschen noch lange die bereits erkannten schreienden Mißstände der bestehenden Gesellschaftsordnung weiter ertrugen oder sich damit begnügten, von kleinlichen sozialen Reformen zu reden. Sogar die Besten jener Epoche waren nämlich aufrichtig davon überzeugt, daß einzig und allein die schlechtesten Triebe der menschlichen Natur die zuverlässigen Grundlagen seien, auf denen sich eine feste und sichere soziale Ordnung aufbauen könne. Man hatte sie gelehrt – und sie glaubten es –, daß nur Habgier und Selbstsucht die Menschen Zusammenhalte, daß alle menschlichen Vereinigungen zerfallen müßten, sobald man durch irgend etwas die Schärfe dieser Triebe abzustumpfen oder ihre Wirksamkeit einzuschränken suche. Mit einem Worte: das gerade Gegenteil von dem, was uns heute selbstverständlich dünkt, wurde damals von den Leuten geglaubt und selbst von jenen, die sich von ganzem Herzen danach sehnten, etwas anderes glauben zu können. Sie glaubten nämlich, daß die gesellschaftsfeindlichen und nicht die gesellschaftlichen Eigenschaften der Menschen die bindende Kraft seien, die die Nation zusammenhält. Sie erachteten es für vernünftig, daß die Menschen nur zu dem Zwecke zusammenlebten, einander zu übervorteilen und zu unterdrücken, übervorteilt und unterdrückt zu werden. Sie waren überzeugt, daß nur eine Gesellschaft von Dauer sein könne, die den gesellschaftsfeindlichen Trieben freien Spielraum gewährte, während eine Ordnung geringe Aussicht auf Bestand habe, die sich auf das Prinzip des Zusammenwirkens aller Kräfte zum allgemeinen Wohl und Nutzen gründete. Muß die Annahme nicht töricht scheinen, jemand könne wirklich glauben, daß Menschen sich je allen Ernstes zu derartigen Ansichten bekannt hätten? Und dennoch ist es eine feststehende geschichtliche Tatsache, daß unsere Urgroßeltern solcher Überzeugung waren. Ja, mehr noch, unsere Ahnen trugen damit Schuld daran, daß die Beseitigung der alten Gesellschaftsordnung so lange hinausgeschoben wurde, obgleich man die von ihr untrennbaren, unerträglichen Übelstände allgemein erkannt hatte. Gerade in dieser ihrer Überzeugung finden wir auch die Erklärung für den tiefen Pessimismus, der in der Literatur aus dem letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts zum Ausdruck gelangt; für den schwermütigen Ton der Dichtungen und den Zynismus des Humors jener Zeit.[225]

Wohl fühlte man damals, daß das Menschengeschlecht unter unerträglichen Verhältnissen seufzte, aber man war ohne klarbewußte Hoffnung auf bessere Zustände. Man war überzeugt, daß die Entwicklung die Menschheit in eine Sackgasse geführt habe, aus der es keinen Ausweg gab. Die Seelenstimmung der Menschen in jener Zeit wird grell durch Abhandlungen beleuchtet, die bis auf unsere Tage gekommen sind, und die in unseren Bibliotheken von Leuten nachgeschlagen werden können, die sich besonders für den Gegenstand interessieren. Darin werden alle möglichen Beweise von weither zusammengeschleppt, nur um darzutun, daß es trotz der jämmerlichen Zustände aus diesem oder jenem federleichten Grunde wahrscheinlich immerhin noch besser sei, weiterzuleben, statt zu sterben. Da man sich selbst verabscheute, so verabscheute man auch seinen Schöpfer. Der religiöse Glaube war allgemein im Niedergang begriffen. Nur bleiche und kalte Strahlen erhellten das Chaos auf Erden, und sie kamen aus einem Himmel, den Zweifel und Ängste mit dunklem Gewölk bedeckten. Daß Menschen an Gott zweifeln konnten, dessen Atem sie beseelte, daß sie die Hand dessen fürchteten, der sie geschaffen hat, erscheint uns jetzt buchstäblich als bemitleidenswerter Wahnsinn. Wir dürfen jedoch nicht vergessen, daß Kinder, die bei Tag mutig sind, des Nachts vielleicht von törichter Furcht ergriffen werden. Seitdem ist für die Menschheit der Tag angebrochen. Im zwanzigsten Jahrhundert ist es sehr leicht, an einen Gott als den Vater der Menschen zu glauben.

Nur kurz, wie es in dieser Rede nicht anders sein kann, habe ich auf einige der Ursachen hingewiesen, die die Menschen darauf vorbereitet hatten, daß die alte in eine neue Ordnung der Dinge umgewandelt werden müßte. Nur kurz auch habe ich verschiedene Ursachen jenes Konservativismus der Verzweiflung angedeutet, der sich der sozialen Umgestaltung einen Augenblick lang entgegenstemmte, als die Zeit bereits erfüllt war, als die Verhältnisse die nötige Reife für die Neuordnung erreicht hatten. Sich über die Schnelligkeit wundern, mit der sich diese Wandlung vollzog, nachdem einmal ihre Möglichkeit anerkannt worden war: das heißt die berauschende Wirkung vergessen, die die Hoffnung auf Gemüter ausübt, die seit langem eine Beute der Verzweiflung geworden sind. Als die Sonne nach so langer dunkler Nacht endlich durch die Wolken brach, da[226] mußte sie natürlich blenden. Der Umschlag der Stimmung mußte von dem Augenblick an geradezu überwältigend werden, wo man zu glauben wagte, daß trotz allem die Menschheit keineswegs dazu bestimmt sei, ein Zwerg zu bleiben, daß ihre zu Boden gedrückte Gestalt nicht das Maß ihrer möglichen Größe sei, sondern daß eine unbegrenzte Entwicklung vor ihr liege. Nichts konnte der Begeisterung widerstehen, die der neue Glaube einflößte.

Damals müssen die Menschen unbedingt empfunden haben, daß sie Aug' in Auge mit einer Sache standen, an der gemessen die großartigsten Ereignisse der bisherigen Geschichte zu kleinen Vorgängen zusammenschrumpften. Gerade weil diese Sache Millionen von Märtyrern gefunden haben würde, hat sie ohne Zweifel keines einzigen bedurft, um zu siegen. Der Wechsel einer Dynastie in einer kleinen Monarchie der alten Welt hat oft mehr Blut gekostet als die Revolution, die die Menschheit endlich auf die richtige Bahn geführt hat.

Wem das Glück beschert worden ist, in unserem goldenen Zeitalter zu leben, dem ziemt es gewiß schlecht, sich ein anderes Los zu wünschen! Und doch habe ich oft gedacht, daß ich mit Freuden meinen Anteil an dieser sonnigen, strahlenden Gegenwart für einen Platz in jener stürmischen Übergangsepoche hingeben würde, wo Helden das verschlossene Tor der Zukunft sprengten und dem aufleuchtenden Blicke eines hoffnungslosen Geschlechts an Stelle der festen Mauer, die ihm bisher den Weg versperrt hatte, die Aussicht auf einen Fortschritt zeigten, dessen Ziel uns noch immer durch den Glanz seines Lichtes blendet. Ach, meine Freunde, wer wird mir nicht beipflichten! Damals gelebt zu haben, wo der schwächste Einfluß zum Hebel wurde, unter dessen Druck die Jahrhunderte zitterten, das war ein Los, das man sogar gern gegen das Glück eintauschen würde, unsere Luft edlen Lebensgenusses zu atmen!

Sie kennen die Geschichte jener letzten, größten und unblutigsten aller Revolutionen. In der Spanne eines Menschenalters brachen unsere Voreltern mit den sozialen Einrichtungen und Sitten von Barbaren und nahmen eine Gesellschaftsordnung an, die vernünftiger und menschlicher Wesen würdig war. Sie ließen ihre räuberischen Gewohnheiten fahren, wirkten einträchtig zusammen und fanden in der Brüderlichkeit die[227] Wissenschaft, reich und glücklich zu werden. ›Was werde ich essen?‹ ›Was werde ich trinken?‹ ›Womit werde ich mich kleiden?‹ das waren Fragen voller Schrecken und von ewiger Wiederkehr, solange nur das Ich des einzelnen sie aufwarf und die Antwort darauf gab. Die Schwierigkeiten ihrer Lösung verschwanden erst, als man sie nicht mehr im Geiste des Individualismus, sondern der Brüderlichkeit stellte und sagte: ›Was werden wir essen?‹ ›Was werden wir trinken?‹ ›Womit werden wir uns kleiden?‹

Armut und mit ihr Knechtschaft waren für die große Masse der Menschen die Folge des Versuchs, die Frage des Lebensunterhaltes im Sinne des Individualismus zu lösen. Kaum aber war die Nation der einzige Kapitalist und Unternehmer geworden, so trat nicht nur Überfluß an Stelle des Mangels, es verschwand auch die letzte Spur der Knechtschaft des Menschen durch den Menschen von der Erde. Endlich lag die so oft vergeblich bekämpfte Sklaverei tot am Boden. Die Unterhaltsmittel wurden nicht länger gleich Almosen von den Männern den Frauen, von den Unternehmern den Arbeitern, von den Reichen den Armen gereicht; sie wurden aus dem gemeinsamen Besitz wie unter Kinder verteilt, die an des Vaters Tische sitzen. Es war unmöglich geworden, daß ein Mensch einen Mitmenschen noch fürderhin als Werkzeug seines eigenen Vorteils benutzte. Die Achtung war die einzige Art des Gewinnes, den er hinfort aus dem Nächsten ziehen konnte. In den Beziehungen der Menschen zueinander gab es weder Anmaßung mehr noch Unterwürfigkeit. Zum erstenmal seit den Tagen der Schöpfung stand der Mensch aufrecht vor Gott. Die Furcht vor Mangel und die Gier nach Gewinn bestimmten nicht länger der Menschen Tun, seitdem allen ein reichliches Auskommen gesichert war und niemand übermäßige Reichtümer erwerben konnte. Die Almosenspender verschwanden so gut wie die Bettler. Die Gerechtigkeit ließ der Barmherzigkeit nichts zu tun übrig. Die zehn Gebote wurden so gut wie überflüssig in einer Welt, wo es keine Versuchung gab zu stehlen; keine Veranlassung, aus Furcht oder um eines Vorteils willen zu lügen; keine Gelegenheit, jemand zu beneiden, weil alle gleich waren; nur geringen Anlaß zu Gewalttätigkeiten, da den Menschen die Macht genommen war, einander wehe zu tun. Viele Zeitalter hatten den alten Traum der[228] Menschheit von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verspottet, nun endlich war ihm Erfüllung geworden.

Wie in der alten Gesellschaft die Großmütigen, die Gerechten, die Zartfühlenden gerade infolge dieser ihrer Tugenden die Benachteiligten gewesen waren, so verloren in der neuen Gesellschaft die Hartherzigen, die Habgierigen, die Selbstsüchtigen ihre Macht. Jetzt zum erstenmal war es möglich, das eigenste Wesen der unverdorbenen menschlichen Natur zu erkennen. Denn zum erstenmal wirkten die Lebensbedingungen nicht mehr mit zwingender Gewalt auf eine Entwicklung der tierischen Eigenschaften der menschlichen Natur hin, wurde die Selbstsucht nicht länger durch einen Preis ermuntert, fand die Selbstlosigkeit ihren Lohn. Dem Kellerschwamm gleich in der freien Luft verdorrten jetzt die schlechten Neigungen, die bisher die guten erstickend überwuchert und in den Schatten gestellt hatten. Die edleren Eigenschaften blühten plötzlich so üppig empor, daß sich die Spötter in Lobpreisende verkehrten; zum erstenmal, seit es eine Geschichte gab, geriet die Menschheit in die Versuchung, sich in sich selbst zu verlieben. Bald ward es klarer als klar, was die Priester und Philosophen der alten Welt nie glauben wollten: nämlich, daß die menschliche Natur ihrem eigensten Wesen nach gut und nicht böse ist; daß die Menschen ihrem natürlichen Sein und Wollen nach edelmütig und nicht selbstsüchtig sind; mitleidig und nicht grausam: brüderlich und nicht hoffärtig; hochstrebend, von der edelsten Liebe und Opferfreudigkeit beseelt, kurz wirkliche Ebenbilder Gottes und nicht bloß die Karikaturen auf ihn, als die sie erschienen. Seit ungezählten Generationen hatte auf der Menschheit beständig ein Druck der Lebensbedingungen gelastet, stark genug, Engel zu verderben. Er hatte den natürlichen Adel unseres Geschlechts nicht an der Wurzel zu treffen vermocht. Sobald er verschwunden war, schnellte auch die Menschheit gleich einem Baum empor, der nicht länger mit Gewalt zu Boden gezogen wird, sie stand wieder aufrecht da, wie es ihrem eigensten Wesen entspricht.

Die Sache sei kurz durch ein Gleichnis veranschaulicht: Die Menschheit vergangener Zeiten glich einem Rosenstrauch, der in einen Sumpf gepflanzt worden war. Er zog seine Nahrung aus trübem, morastigem Wasser, am Tage atmete er erstickende Nebelluft ein, und des Nachts fiel[229] kalter, giftiger Tau auf ihn. Zahllose Geschlechter von Gärtnern hatten ihr Bestes getan, den Strauch zum Blühen zu bringen. Aber ihre Bemühungen hatten kein Glück. Wenn es viel war, so trug der Strauch einmal eine halb offene Knospe, an deren Herzen der Wurm nagte. Viele behaupteten, dies Gewächs sei gar keine Rose, sondern ein schädlicher Strauch, der ausgerissen und ins Feuer geworfen zu werden verdiene. Die Gärtner meinten meist, der Strauch gehöre zwar zu den Rosen, jedoch zehre ein unausrottbares Übel an ihm, das lasse die Knospen nicht erblühen und mache das Gewächs selbst kraftlos und welk. Nur einige wenige hielten dafür, daß der Strauch gut sei, und daß nur der Sumpf an seiner Wurzel die Entwicklung hemme. Gebt dem Strauch besseres Erdreich, so wird er auch besser gedeihen, so sagten sie. Aber diese Leute waren keine gelernten Gärtner, und so wurden sie von jenen bloße Buchgelehrte und Träumer gescholten. Auch das Volk hielt sie meist dafür. Einige Gelehrte von großem Rufe verkündeten außerdem eine besondere Weisheit. Es mag möglich sein, so lehrten sie, daß der Strauch anderswo kräftiger gedeiht, aber für die Knospen ist es eine weit heilsamere Schule, den Versuch zu wagen, im Sumpfe die Kelche zu öffnen. Sie unter günstigen Bedingungen zu entfalten, wie leicht wäre das! Recht selten zwar würden die Knospen sein, die sich erschließen könnten, blaß und duftlos müßten die Blüten bleiben. Aber welch hohes moralisches Verdienst, auf Sumpfboden zu erblühen und nicht im geschützten Garten!

Die zünftigen Gärtner und Weisen behielten die Oberhand. Der Rosenstrauch blieb im Sumpfe und wurde gepflegt, wie es die Voreltern getan hatten. Seine Wurzeln wurden immer wieder mit neuen Mischungen getränkt. Um den Wurm zu töten, den Meltau zu entfernen, erprobte man unzählige Rezepte, von denen jedes einzelne durch seinen Erfinder als das beste, einzig wirksame Mittel angepriesen ward. So blieb es lange. Zwar wollte zuweilen jemand eine kleine Besserung in dem Aussehen des Strauches bemerken, aber dafür gab es wiederum viele, die behaupteten, er sähe jetzt nicht einmal mehr so gut aus als früher. Alles in allem konnte man nicht sagen, daß sich der Strauch merklich verändert hätte. Endlich kam eine Zeit, in der man allgemein daran verzweifelte, daß aus ihm je etwas werden könne, wenn er stehen bliebe, wo er stand. Der[230] Gedanke, den Strauch zu verpflanzen, ward von neuem angeregt und diesmal beifällig aufgenommen. ›Laßt es uns versuchen‹, hieß es allgemein. ›Vielleicht kann er anderswo besser gedeihen; denn wenn er hier stehen bleibt, so ist es mindestens zweifelhaft, ob er noch länger die Pflege lohnt.‹ So geschah es, daß der Rosenstrauch der Menschheit verpflanzt ward. Er kam in gute, warme, trockene Erde, wo ihn goldenes Sonnenlicht umspielte, wo die Sterne um ihn warben, und ein milder Windhauch ihn umkoste. Da zeigte es sich, daß der Strauch wirklich ein Rosenstrauch war. Wurm und Meltau verschwanden, und die Zweige bedeckten sich mit den schönsten roten Rosen, deren Düfte die Welt erfüllten.

Es ist ein Unterpfand der uns gesetzten Bestimmung, daß der Schöpfer in unser Herz ein unendlich hohes Ideal der Vollkommenheit gelegt hat, an dem gemessen das Erreichte stets unbedeutend erscheint, und das uns immer aufs neue in weite Fernen weist. Hätten sich unsere Voreltern eine Gesellschaft vorstellen können, wo die Menschen wie Brüder ohne Streit und Mißgunst, ohne Gewalttat und Betrug einträchtig beieinander wohnen; wo eine frei erwählte, nie drückende Berufsarbeit jeder Sorge um den kommenden Tag enthebt; wo sie sich nicht mehr um ihren Lebensunterhalt zu kümmern brauchen als Bäume, die von nie versiegenden Bächen bewässert werden – hätten sich unsere Voreltern, sage ich, eine solche Gesellschaft vorstellen können, so wäre sie ihnen als das Paradies selbst erschienen. Sie hätten gewähnt, daß der Himmel auf die Erde gekommen sei, sie hätten sich nicht träumen lassen, daß den Menschen darüber hinaus noch etwas zu wünschen und zu erstreben übrig bliebe.

Aber wie steht es mit uns, die wir die Höhe erklommen haben, zu der sie emporblickten? Wenn wir nicht durch eine außergewöhnliche Veranlassung, wie die vorliegende, daran erinnert werden, daß es um die Menschheit nicht immer so bestellt gewesen ist wie jetzt, so fangen wir bereits an, dies zu vergessen. Nur mühsam kann sich unsere Einbildungskraft die Gesellschaftsordnung unserer Vorfahren von gestern und ehegestern vorstellen. Wir finden sie seltsam und lächerlich. Uns dünkt es keineswegs das Endziel, daß die alte Rätselfrage endlich gelöst worden ist, allen die Mittel zum Unterhalt so zu sichern, daß Sorgen und Verbrechen[231] nie an sie herantreten. Wir bewerten das nur als eine Vorstufe für jeden Fortschritt, der der Menschheit wirklich würdig ist. Wir haben dank unserer Neuordnung der Dinge bloß eine törichte, drückende und unnötige Bürde abgeworfen, die unsere Vorfahren daran hinderte, die wahren Zwecke des Daseins zu verfolgen. Wir haben uns der überflüssigen Kleider entledigt, um den Wettlauf beginnen zu können, nichts weiter. Wir gleichen einem Kinde, das soeben erst aufrecht stehen und gehen gelernt hat. Für das Kind bedeutet es ein wichtiges Ereignis, wenn es die ersten Schritte tut. Vielleicht wähnt es, daß ihm nach dieser Errungenschaft nur noch wenig zu erreichen übrig bleibt, aber schon nach einem Jahre hat es vergessen, daß es nicht immer gehen konnte. Sein Horizont ward größer, als es aufstand, er erweiterte sich, als es sich fortbewegte. Sein erster Schritt war in gewissem Sinne tatsächlich eine wichtige Begebenheit, jedoch nur als Anfang, nicht als Ende. Mit ihm begann die wahre Laufbahn des Kindes. Die Befreiung der Menschheit von der alle Kräfte des Körpers und Geistes verzehrenden Sorge um die leibliche Notdurft kann als eine Art Wiedergeburt betrachtet werden. Ohne sie wäre die erste Geburt ewig ungerechtfertigt geblieben, denn sie hätte uns in ein Dasein geführt, das nur eine Last war. Erst diese Wiedergeburt gibt unserem Leben Berechtigung, Zweck und Ziel. Mit ihr ist die Menschheit seitdem in eine neue Phase geistiger Entwicklung eingetreten. Höhere Fähigkeiten haben sich offenbart, deren Vorhandensein in der menschlichen Natur unsere Vorfahren kaum geahnt hatten. War das neunzehnte Jahrhundert von trüber Hoffnungslosigkeit und tiefem Pessimismus über die Zukunft des Menschengeschlechts erfaßt, so beruht die belebende und treibende Kraft unserer Zeit in der begeisternden Erkenntnis, daß unser irdisches Dasein überreich ist an Mitteln des Fortschritts, und daß der Vervollkommnung der menschlichen Natur keine Schranken gezogen sind. Die körperliche, geistige und sittliche Veredlung der Menschheit von Geschlecht zu Geschlecht wird als das große Ziel erkannt, das der höchsten Anstrengungen und Opfer wert ist. Wir sind überzeugt, daß die Menschheit jetzt zum erstenmal sich anschickt, Gottes Ideal ihrer selbst zu verwirklichen, und daß von nun an jedes kommende Geschlecht einen Schritt weiter nach aufwärts bedeuten muß.[232]

Fragt man, was wir erwarten dürfen, wenn ungezählte Geschlechter dahingegangen sind? Ich antwortete: Weit dehnt sich der Weg vor uns, aber das Ende verliert sich im Lichte. Denn zwiefach ist des Menschen Rückkehr zu Gott, ›der unsere Heimat ist‹. Der einzelne kehrt zu ihm zurück durch den Tod, die Gattung durch die Vollendung ihrer Entwicklung, in der sich das göttliche Geheimnis völlig entfaltet, das in ihrem Keime verborgen liegt. Mit einer Träne für die dunkle Vergangenheit wenden wir uns der blendenden Zukunft zu. Das Auge verhüllend, eilen wir vorwärts. Der lange und traurige Winter der Menschheit ist vorüber. Ihr Sommer hat begonnen. Sie hat ihre Puppenhülle durchbrochen und ihre Flügel frei entfaltet. Der Himmel liegt vor ihr.

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 216-233.
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