Anakreons Vermählung

[49] Eines Tages kam Cythere

An dem Fuse des Parnaßes

Zu Anakreon dem Dichter;

Und ersucht ihn, ihren Knaben,

Der so wild zu unterrichten.

Gleich nahm er ihn in die Lehre;

Lehrt ihn der Camönen Künste;

Macht ihn sittsam und gehorsam

Gegen seine schöne Lehren;

Und gewöhnt ihn, vor den Musen

Stets gekleidet zu erscheinen.


Lange nachher kam sie wieder.

Weiser, und geliebter Dichter,

Sprach sie, was kann ich dir geben,

Deinen Fleiß an meinem Kleinen

Nach Verdienste zu belohnen?

Du erzogest ihn so sittsam,1

Daß ihn alle Pierinnen,

Daß ihn alle Menschen lieben.

Möchtestu doch selber sagen,

Wie ich dich belohnen könne!

Soll ich von den Charitinnen

Dir die Artigste vermählen?

Oder willstu eine andre?
[50]

Er erwiederte bescheiden,

Und mit großer Ehrerbietung:

»Ach! wen kann ein Weiser lieben,

Wenn er dich einmahl gesehen,

Göttin, wie ich dich gesehen!«


Sie verstund ihn, und vermählte

Sich in des Parnaßes Gärten

Mit ihm, in geheimer Stille.

Wenn sie badete, so hielt er

Ihren Gürtel in Verwahrung;

Wenn er dichtete, so schrieben

Ihre Gratien die Lieder,

Die sie ihn verbessern lehrte.

Amor selbst mußt ihn bedienen:

Ihm den alten Bart von Silber,

Ihm die alten Locken salben,

Ihn bey holdem Sonnenscheine

An der Hand spazieren führen,

Ihm die goldne Leyer tragen,

Ihm, mit jedem neuen Morgen,

Neue Rosenkränze binden,

Und um seine Schläfe winden;

Und ihn immer: treuer Lehrer!

Und ihn immer: Vater! nennen.

Niemand wolle sich verwundern,

Daß man seine Kleinigkeiten

Annoch liest, und übersetzet.

»Was die Gratien geschrieben,

Was Cythere selbst verbessert,

Ueberlebet alle Zeiten,

Und bleibt ewig liebenswürdig.«

Fußnoten

1 La plupart des Odes d'Anacréon sont des fictions ingenieuses, qui ne sont ni trop tendres, ni trop nues, qui occupent plus les Lecteurs de l'Art du Poëte, que des choses mêmes, qu'elles représentent, et qui respectent la delicatesse du goût, l'innocence des jeunes personnes, et la pudeur du sexe. Ces Odes ressemblent à ces femmes aimables, qui plaisent plus par les graces de leur esprit, que par la regularité de leur traits, et qui ont beaucoup d'Amis, et peu d'amans. Idée de la Poësie Angl. par Mr. l'Abbé YART. T.v.p. 123.


Quelle:
Johann Nikolaus Götz: Gedichte. Stuttgart 1893, S. 49-51.
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