Arist am Felsen

[220] 1801.


An einem Felsenhange lag Arist,

Hin in die Wüste seufzend: »Ach, wie stumm

Ist Alles um mich, und wie geist- und herz-

Und sinnenleer! Wie fern ist jene Sonne,

Die untergeht, und jener traurige,

Von keinem Lebenden bewohnte Mond!

Es strecken ungeheure Wüsten sich

Zum Mars, zu Zeus, Saturn und Uranus,[220]

Noch ungeheurere von Stern zu Stern.

Ein Quentchen ist das Leben in der Schöpfung,

Und ach, wie noch ein kleiner Quentchen ist

Verstand und Herz auf unsrer Erde! Fels

War einst und ist sie noch, ein glühnder Brei,

Der Jahremillionen um die Sonne,

Hinausgeschleudert von ihr, schwebte, dann

In kältern, wüsten Regionen sich

Allmählig härtete; allmählig flog

Hier, dort und da ein Lebensfunk ihn an,

Glimmt' und verglimmte. Jener Kalk der Berge,

Die Erde, die ich trete, Baum und Thier

Und Pflanze, was auf Erden irgend lebt,

Sind letzte Folgen eines Untergangs,

In den einst Alles sinkt. Des Menschen Geist,

Wie sparsam ist er ausgestreuet! schwach

Und machtlos funkelt hier und dort ein Strahl

Vernunft im Dunkel und verschwindet. Stumm

Ist Alles um mich her; ach, so verstummt

Das Menschenherz, dem Menschen Wohl und Weh;

Aufbrausend glüht es, quälend sich und Andre,

Bis es im stillen Grabe nicht mehr schlägt.«


Die Nachtigall seufzt' über seinem Haupt

Ihr Lied der Liebe; unweit neben ihm

Girrt' im getreuen Nest die Turteltaube:

Er hört' sie nicht. Es murmelte der Bach,

Der Westwind lispelt' in den Zweigen: er

Vernahm den fernen und den nahen Laut

Der Schöpfung nicht; in ihm war's wüst und leer.


Da schwebt' in holder Dämmerung ein Glanz

Zu ihm herüber aus der Sonne selbst

(Wir nennen es Licht des Zodiakus);

Gestalt- und wortlos floß es in ihn ein

Und sprach: »Dir ist die Schöpfung wüst und leer,

Gedankenlos der Lebensocean,

Der Dir Gedanken schafft? Was sind Gedanken

In Dir als Abbildungen Dessen, was

Von außen Du vernimmst und in Dir ordnest?

Der Weltgeist, nenn ihn Aether oder Licht,

Du siehst ihn nicht im Lichte, hörst ihn nicht

Im Schall; der Unsichtbar', der Unhörbare,[221]

Er macht Dich sehn und hören, fühlen, denken;

Er denkt in Dir, Du bist nur sein Gefäß.

Und wähnst Du Dich, sein Einziges zu sein,

Dem jedes Element, selbst Luft und Licht,

Organ ist, der im Wasser kühlt und rauscht,

In Flammen glüht und mit sich selber kämpft

Zur Allerhaltung! Thätliche Gedanken,

Nicht leere Worte bildet er Dir vor

Und denkt in ihnen. Blickt die Blume nicht

Verständiger Dich an, als Du sie anblickst?

Selbständig lebt sie und genießet sich

Und dient der Schöpfung. Schau im letzten Strahl

Der untergehnden Sonne ihre Pracht!

Vernimm den Zeichnenden, der sie umschwebt

Mit goldnem Griffel! hör im Rauschen hier,

Dort im Gesang, im Lispel dort den Geist,

Deß Stimme nicht Gesang und Lispel ist!

Gedankenvoll, verstandvoll ist die Schöpfung,

Ein großes Herz, das Wärm' in alle Adern,

In alle Nerven Gluth der Fühlung gießt

Und sich in Allem fühlet. Er zerstört

Und bauet stets; die große Mutter trägt

In jedem Augenblick ein junges Kind

Mit neuer Mutterfreud' an ihrer Brust.

Sich schöner zu verjüngen, altet sie.

Was nicht mehr wirken, nicht genießen kann,

Das welket und wird unsichtbar; es lebt

Im Andern schon verjüngt und munter. Sie

Erfreuet sich in Allem, liebet stets

Die alten, immer jungen Formen, schaut

In jeglicher Verändrung neu sich an,

In vielen Blumen und Gedankenweisen.

In Pflanzen, Thieren, Menschencharakteren

Erkennt sie sich; Du schauest sie nur an

In Deiner Art; der große rege Geist,

Nur er versteht und denkt und fühlt sich ganz.«


Die Seel' Arist's entwölkte sich; es schien

Der Mond ihm freundlicher, das Abendroth

Beglänzte heitrer seine Stirn; jedoch

Sein Herz blieb kalt. Der Turteltaube Girren,

Der Nachtigall Liebseufzen rührt' ihn nicht.[222]

»Wol fließen,« sprach er zu sich selbst, »Gedanken

In mich, Gedanken, manch Jahrhundert alt;

Die längst verstorbnen, nicht gestorbnen Geister

Beseelen mich; Ihr sprecht zu mir, Horaz,

Homer und Plato; ein verborgnes Band

Zieht von der ältsten bis zur neusten Zeit

Aus Seele sich zu Seele. Glückliche,

Die, in die güldne Geisteskette fest-

Gewebt, die Schläge des Gehirnes fort

Und fort geleiten! Dreimal Glückliche,

Die den geheimen feinsten Flammenstrom

Zum Bessren und zum Besten läutern!

Ist wol ein großer, unermeßlicher

Verstand in der Natur; selbstständige

Gedanken stehn vor mir, und doch verknüpft

Das Kleinste mit dem Größesten, gedrängt

Und abgetrennt; wir buchstabiren sie,

Doch wer vernimmt den Sinn des Ganzen? wer

Sah Dir, o Urgeist, in das Angesicht?«


Ein wärmer Licht umfing den Zweifelnden;

Sein treuer Hund (er hatte seinen Herrn

Verloren schon gewähnt und lang' gesucht)

Sprang auf ihn freundlich, bellt' ihm Freude zu

Und warf sich fest andrückend ihm zu Füßen.

»Wähnst Du allein Dich in der Schöpfung?« sprach

Der Sonnengenius ihm wärmer zu.

»Was diesen Freund hier an Dich bindet, sollt'

Es Allen, die mit Dir von einem Blut,

Von einer Bildung sind, denn fehlen? Wer

Erzog Dich? Wem verdankest Du Dich selbst?

Dein bessres Selbst? Wer bildete Dein Herz?

Wer bracht' auf Deiner Lebensbahn Dich oft,

Und unbewußt Dir, weiter? Eigennutz

Beseelte nicht, die Dir begegneten,

Dich retteten, Dich liebten. Ungehört

Erklang Dein Seufzen in ihr Herz; der Wunsch,

Der in Dir selbst unausgebrütet lag,

Bekam in ihrem Geiste Flügel. Kam

Dir in der Zeit der Noth nicht oft ein Gott,

Ein Genius in menschlicher Gestalt,

Hilfreich entgegen? Fühltest Du nicht selbst[223]

Oft Ahnungen, die in die Ferne Dich,

Dich in die Zukunft rissen, die Dich sorgend,

Errettend thätig machten für den Freund,

Den Du nicht kanntest? Nur die große Mutter

Vorsehung kannte Dich und ihn; sie schuf

Euch Beide für einander; Euer Schicksal,

Gehämmert ward's auf einem Amboß: Dir

In seiner Noth der freudigste Genuß,

In Deiner Hilf' ihm hohe Seligkeit.«


Wie bei dem ersten warmen Sonnenstrahl

Nach kalten Frühlingsnächten zitternd sich

Die Blume öffnet, ungewiß, ob sie

Dem Strahl vertrauen dürfe, so entschloß

Die tiefbeklemmte Brust Arist's. »Es schlägt,«

So fuhr die Stimme fort, »ein großes Herz

In der Natur; vertrau der Fühlenden!

Dein reinester Gedank' entsprang dem Quell

Des reinsten Geistes und gehört ihm zu

Und fließt in ihn zurück, zum Allbeleber.

Dein tiefster Wunsch gehört dem großen Herz

Der Schöpfung zu und findet es gewiß.

In Dein Verlangen stimmen alle guten,

Gerechten Seelen; Dein ist ihr Gebet,

Dein Echo ist ihr aller Busen. Höre

Mit Geistesohr die hohe Harmonie!«


Auf blickt' er, und – da stand vor ihm sein Freund

Agathokles. »Rastlose Unruh, Freund,

Trieb mich hieher. Du leidest und verbirgst

Mir Deinen Gram; die Ursach sucht' ich lang'

In Deinem Blick, in Deinen Mienen. Wohl,

Ich habe sie gefunden. Welch ein Nichts,

Das Dich abhärmet! ich verschaff' es Dir.

Ein guter Genius hat mich für Dich

Geängstet und für Dich, wie längst, gesorgt.

O Freund, es wacht ein allgemeiner Geist

Vorwirkend, fernesehend über uns;

Die Aller Wunsch und Herzen knüpfet, Freund,

Es schlägt ein großes Herz in der Natur.«


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 220-224.
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