Zweiter Gesang

[219] Gestärkt vom Himmelstrost des Genius,

Ging ich auf Erden ruhig, still einher;

Mein Vaterland war in den Sternen. Einst

Befiel mich mitten im Gedankenmeer

Von Gottes Schicksal mit der Menschenwelt

Ein himmlischer, ambrosisch-süßer Schlaf.

Ich war im Paradiese. Vor mir stand

Der Vater und die Mutter alles Heers

Der Menschensöhne, hohe Traumgestalten!

Der Vater, Gottes Sohn und Abbild; er

Das Urbild aller Manneswürdigkeit;

Sie Tochter Gottes, Paradieses Braut

Und Jungfrau, Weib des ersten frohen Manns,

Das Urbild aller Weibesschöne! Fast

Anbetend sah ich sie und fühlte mich

So klein, so tief hinabgesunken, fühlte

So tief hinabgesunken mein Geschlecht

Von jener Würd' und Schöne, von der Kraft

Und Weisheit der beherrschenden Gestalt,

Die Gottes Ebenbild hienieden war,

Und ihrer Güt' und Unschuld. Wie der Bach

Von seiner reinen Silberquelle fleußt

Und trübt sich hie und da mit Schlamm und Koth

Und schwillt von Gifte, färbet sich mit Blut

Und Eiter, ist mit Leichnamen bedeckt

Und stirbt zuletzt im Sande: so erschien

Dein Fortfluß mir, Du armes Menschenvolk,

Von schwächeren zu schwächeren Geschlechtern.

»Wo ist Dein gottentsprungner Himmelsquell?

Und kannst Du, armer, trüber, blut'ger Bach,

Zurück zur Quelle fließen? Kannst Du je

Die erste, reine Himmelsquelle werden?

Und bleiben?« Bittre Thränen flossen mir

Da, wo ich stand, in meinen trüben Bach

Des Menschenlebens. Jene Traumgestalten

Des Gottes und der Göttin meines Stamms

Verschwanden, und das Paradies verschwand.[219]

Ich sah, im letzten Blick, des Lebens Baum

Verdorren, sah des Baums der Weisheit Frucht,

Wie Sodom's Apfel, sich mit Galle schwärzen

Und auf ihm Drachen zischen, Donner brüllen

Und schwarze Wolken ruhn. Ich bebete

Und sah den Vater Adam wieder, weinen

Um seinen liebsten, ach, erschlagnen Sohn,

Von Bruders Hand erschlagen, sahe weinen

Die unglücksel'ge Mutter um den Sohn,

Der ihres Herzens erstgeborner Trost

Und Freude war und nun in Wüsten irrt,

Von Gottes Rache tief verwundet. Ich

Sah statt des Paradieses rings die Welt

Bedeckt mit Dorn und Unkraut und gedüngt

Mit saurem Menschenschweiß und Menschenblut.

Ich sah Tyrannen, Riesen, Himmelsstürmer,

Verführer Derer, die, wie Gottes Töchter,

In Unschuld glänzten; sah der Menschen Weg

Vor Gott verderbt und hörte seine Reu',

Des Schöpfers Reue, daß er Menschen schuf;

Und sah die schweren Wasser des Gerichts

Einbrechen, sah, was lebet, mit dem Tode

In schwarzen Fluthen ringen, hörete

Ihr letztes Angstgewimmer, sah das Schiff

Der Angst und der Errettung: ach, es rettet

Nur Wenige! und wozu rettet's sie?

Sie bauen neue Thürme, finden neue,

Noch ärgre Laster und verwandeln Gott

In Götzen. – – – – – – – – – – – – – – –


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 219-220.
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