Die Heimath

[225] Ich seh die Heimath wieder,

Die lange ferne blieb,

Sie träufelt Wonne nieder,

Sie hat ihr Kind so lieb.


Voll Liebe reichen Bäume

Mir froh die grüne Hand,

Ich steh und sinn' und träume,

Und alles thut bekannt.
[226]

Verspät'te Blümchen ragen

Neugierig aus dem Gras,

Es ist als ob sie fragen

Recht zärtlich: wer ist das?


Ich muß sie alle grüßen

Und wieder traulich sein;

Laß, Blume, dich noch küssen,

Wie oft gedacht ich dein!


Da sind die grünen Gänge,

Die Steine wohl bekannt,

Und wunderbare Klänge

Sind hier noch fest gebannt.


Es ist die Nachtigalle,

Sie blieb an diesem Ort,

Und sagt mit süßem Schalle

Mir noch ein scheidend Wort.
[227]

Wie treu ist dieser Sänger,

Daß er noch mein gedacht. –

Mir wird im Herzen bänger

Hier in der grünen Nacht.


Sie fliegen fort die Töne,

Die Erde nimmt das Laub,

Was gestern grünte schöne

Ist heut des Windes Raub.


O Frühling, hintergangen

Hast du die arme Welt,

Erst schlägst du auf mit Prangen

Und lachend dein Gezelt.


Es stehn wie Dienerschaaren

Mit blitzendem Gewehr,

Vor Unfall dich zu wahren,

Die Blumen um dich her.
[228]

Die Wasser wie Herolde

Rufen dein Kommen aus,

Ganz ausgeschmückt mit Golde

Ist deine Flur und Haus.


Die Vögel fliehn und ziehen,

Mit Wolken spielen sie,

Und alle Blumen blühen

Und duften spät und früh.


Die Rose kommt mit Scheinen,

Und ruft: nun liebet all!

Wer sollte wohl nicht weinen

Bei diesem süssen Schall?


Und wie man sich besinnet,

Das Auge thränenschwer,

Die Blüthe Frucht gewinnet

Und ruft den Sommer her.
[229]

Was hilft es doch, zu flüchten,

Zum grünen, kühlen Wald,

Wenn hier aus allen dichten

Zweigen ein Klaglied schallt?


Die Nachtgall will verkünden

Was Schmerz und Liebe sey,

Sie kann den Ton wohl finden

Und singt ihr Herze frei.


Bald werden stumm die Bäume,

Die Blumen blühen ab,

Erwachen alle Träume,

Und sehn vor sich ein Grab.


Es fallen wie die Todten

Wunsch, Lust und Leben hin,

Verlieren gern den Othem,

Nach Sterben geht ihr Sinn.
[230]

Da wird erzeugt in Schmerzen

Zuletzt der heiße Wein,

Er ist ein wildes Scherzen

Vom Tod sich zu befrein.


Nun fühl' ich mich verloren

In finstrer Einsamkeit,

Es wird der Tod geboren,

Er bringt mir tiefes Leid.


Die Erde ungeschmücket,

Blumlos und ohne Gras, –

Wohl hab ich dich erblicket,

Die Heimath ist nun das.


Du rufst mit stillem Winken

Mich wie das Laub herab,

Und gern will ich versinken

In dieses offne Grab.
[231]

Doch kommt nicht Frühling wieder?

Bleibt nicht die Liebe neu?

Es stehn ja muntre Lieder

Mir baldigst wieder bei.


Hab ich nicht Trost gegeben?

Ist nicht mein Blick erkannt?

So bin ich auch dem Leben

Von neuem zugewandt.


Die Himmelslüfte spielen

Mild durch mein Herz dahin,

Das ist ein seelig Fühlen,

Als ob im May ich bin!


Wie fliehen viele Wogen

Hinab in Strom und Meer,

Und muthig angeflogen

Schwimmt neue Flut daher.
[232]

Liebe kann nicht versiegen,

Sie ist ein ewger Quell,

Will jedes Bild verfliegen,

Bleibt doch ihr Antlitz hell.


Drum will ich nicht verzagen,

Nun singe, neues Herz,

Und will ich Leiden klagen

Verschönt Gesang den Schmerz. –

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 1, Heidelberg 1967, S. 225-233.
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