Frühlings- und Sommerlust

[220] Vöglein kommen hergezogen,

Setzen sich auf dürre Aeste: –

»Weit, ach weit sind wir geflogen,

Angelockt vom Frühlingsweste.«


Also klagen sie, die Kleinen:

»Schmetterlinge schwärmen schon,

Bienen sumsen ihren Ton,

Suchen Honig, finden keinen.


Frühling! Frühling! komm hervor!

Höre doch auf unsre Lieder,

Gieb uns unsre Blätter wieder,

Horch, wir singen dir in's Ohr.
[221]

Kömmt noch nicht das grüne Laub?

Laß die kleinen Blätter spielen,

Daß sie warme Sonne fühlen,

Keines wird dem Frost zum Raub;« –


»Was singt so lieblich leise?

Spricht drauf die Frühlingswelt,

Es ist die alte Weise,

Sie kommen von der Reise,

Keine Furcht mich rückwärts hält.«


Auf thun sich grüne Aeugelein,

Die Knospen sich erschließen

Die Vögelein zu grüßen,

Zu kosten den Sonnenschein.


Durch alle Bäume geht der Waldgeist

Und sumst: Auf Kinder! Der Frühling ist da;

Storch, Schwalbe, die ich schon oftmals sah,

Auch Lerch' und Grasemück' ist hergereißt.
[222]

Streckt ihnen die grünen Arm entgegen,

Laßt sie wohnen wie immer, im schattigen Zelt,

Daß sie von Zweig zu Zweig sich regen,

Und jubeln und singen in frischer Welt.


Nun regt sich's und wühlt in allen Zweigen,

Alle Quellen mit neuem Leben spielen,

In den Aesten Lust und Kraft und Wühlen,

Jeder Baum will sich vor dem andern zeigen.


Nun rauscht's und alle stehn in grüner Pracht,

Die Abendwolken über Wälder ziehn,

Und schöner durch die Wipfel glühn,

Der grüne Hain von goldnem Feuer angefacht.


Gebiert das Thal die Blumen an das Licht,

Die die holde Liebe der Welt verkünden,

Es lächelt und winkt in stillen Gründen

Des sanften Veilchens Angesicht,

Das sinnige Vergißmeinnicht.
[223]

Sie sind die Winke, die süßen Blicke,

Die dem Geliebten das Mädchen reicht,

Vorboten vom zukünft'gen Glücke,

Ein Auge, das schmachtend entgegen neigt.


Sie bücken sich mit schalkhaftem Sinn

Und grüßen, wer vorübergeht,

Wer ihren sanften Blick verschmäht

Dem reichen sie die weissen Finger hin.


Doch nun erscheint des Frühlings Frühlingszeit,

Wenn Liebe Gegenliebe findet

Und sich zu Einer Lieb' entzündet,

Dann glänzt die Pracht der Blumen hell und weit.


Die Rosen nun am Stock in's Leben kommen,

Und brechen hervor mit liebreizenden Prangen,

Die süsse Röthe ist aufgeglommen[224]

Daß sie vereinter Schmuck dicht an einander hangen.

Dann ist des Frühlings Frühlingszeit,

Mit Küssen, mit Liebesküssen der Busch bestreut.


Rose, süße Blüthe, der Blumen Blum',

Der Kuß ist auf deinen Lippen gemahlt,

O Ros' auf deinem Munde strahlt

Der küssenden Lieb' Andacht und Heiligthum.


Höher kann das Jahr sich nicht erschwingen,

Schöner als Rose der Frühling nichts bringen,

Nun läßt Nacht'gall Sehnsuchtslieder klingen.

Bei Tage singt das ganze Vögelchor,

Bei Nacht schwillt ihr Gesang hervor.

Und wenn Rose, süß' Rose die Blätter neigt,

Dem Sommer wohl das Vögelchor weicht,

Nachtigall mit allen Tönen schweigt.

Die Küsse sind im Thal verblüht,

Dichtkunst nicht mehr durch Zweige zieht.

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 1, Heidelberg 1967, S. 220-225.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Vollst Ndige Sammlung Klassischer Und Volksth Mlicher Deutscher Romanzen Und Balladen Aus Dem 18. Und 19. Jahrhundert: Vollst Ndige Sammlung Klassischer Und Volksth Mlicher Deutscher Gedichte Aus Dem 18. Und 19. Jahrhundert, Volume 2 (Paperback)(German) - Common
Vollst Ndige Sammlung Klassischer Und Volksth Mlicher Deutscher Romanzen Und Balladen Aus Dem 18. Und 19. Jahrhundert: Vollst Ndige Sammlung Klassischer Und Volksth Mlicher Deutscher Gedichte Aus Dem 18. Und 19. Jahrhundert, Volume 1 (Paperback)(German) - Common
Die schönsten Liebesgedichte (insel taschenbuch)
Schriften in zwölf Bänden: Band 7: Gedichte
Schriften in zwölf Bänden: Band 7: Gedichte

Buchempfehlung

Wilbrandt, Adolf von

Gracchus der Volkstribun. Trauerspiel in fünf Aufzügen

Gracchus der Volkstribun. Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die Geschichte des Gaius Sempronius Gracchus, der 123 v. Chr. Volkstribun wurde.

62 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon