Ode an die Weisheit

[141] Aus dem Englischen der Clarissa.1


Der Nacht getreuer Vogel schwirrt

Nun endlich, da es dunkel wird,

Vom öden Thurm heraus:

Wo, sicher vor des Tages Glut,

Er philosophisch einsam ruht,

In Epheu, Schutt und Graus.
[141]

Der feyerlichen Stimme Schall

Weckt rund herum den Widerhall:

Es seufzt die Sommerluft.

Ich höre, folgsam hör ich dich,

Minervens Liebling! welcher mich

Zum Sitz der Weisheit ruft.


Sie liebt die Stille kühler Nacht:

Wenn Lunens bleiches Antlitz lacht,

Täuscht kein geschmückter Tand.

Der Thorheit nimmt die Dunkelheit

Ihr an der Sonne schimmernd Kleid

Und farbigtes Gewand.


O Pallas, Göttinn ieder Kunst,

Quell reiner Freuden, deren Gunst

Uns bessert, uns vergnügt;

Die, an erhabner Schönheit reich,

Bewundert und geliebt zugleich,

Die Sterblichen besiegt!


Mit stillem Geist fleh ich zu dir;

Und nicht von stürmender Begier

Keicht deines Dieners Brust.

Der Thoren eitle Wünsche flieht

Mein dir gehorchendes Gemüth,

Und seufzt nach beßrer Lust.
[142]

Nicht sey der Ehre Pfauenglanz,

Des Glückes Prunk, Cytherens Kranz

Mein Wunsch vor deinem Thron!

Für Stolz und Eitelkeit und Geiz

Sey dieses bunten Spielwerks Reiz

Betrogner Sorgen Lohn!


O du, die beßre Gaben giebt!

Mein Vorzug sey, von dir geliebt,

Inwendig schön zu seyn;

Nicht reich, als an zufriedner Lust,

Nicht mächtig, als in meiner Brust,

Herr über mich allein!


Wenn alles Glückes Glanz verbleicht,

Die Rosen unsrer Lust, vielleicht

Kaum aufgeblüht, verblühn:

So lacht aus dir Unsterblichkeit;

Dein Lorbeer trotzt begrauter Zeit,

Stets blühend, immer grün.


Durch dich beschützet, acht ich nicht,

Was dumme Schmähsucht spottend spricht,

Wozu der Narr mich macht.

Mich kränkt nicht plumper Thorheit Hohn,

Nicht, wenn mit boshaft feinerm Ton

Mich falscher Witz verlacht.


Von Misgunst, Unruh, Müh und Streit,

Den Feinden unsrer Lebenszeit,

Flieh ich dir freudig zu:

In stiller Wälder Aufenthalt,

Wo Platons heilger Schatten wallt,

Unsterblich schön, wie du.
[143]

Des rauschenden Ilyssus Fluth

Schwieg, wenn er lehrte, was uns gut,

Schön und vollkommen sey.

Athen hing an dem weisen Mund:

Der Jüngling horcht' entzückt und stund

Mit ehrfurchtvoller Scheu.


Er gab der stärkern Wahrheit nach,

Die seine wilde Freiheit brach:

Er fühlte, wenn sie schalt.

Der Leidenschaften Sturm entschlief:

Die Tugend siegte, da sie rief,

Mit schmeichelnder Gewalt.


Dir, die des Dichters Lied belebt,

Des Patrioten Herz erhebt,

Des Helden Muth im Streit;

Dir dankt ein häuslich Liebesband,

Ein stilles Leben auf dem Land,

Geheime Süßigkeit.


Weg Namen, die die Fabel preist!

Zu dir, vollkommner höchster Geist,

Fliegt mein Gesang empor.

Du giebst, was Sterblichen gebricht:

Die Weisheit quillt aus deinem Licht,

Quell alles Lichts! hervor.
[144]

Mich leit' ihr sichrer Strahl gewiß,

In zweifelhafter Finsterniß,

Wo sich mein Fuß verliert:

Wenn sie die Nebel nicht zerstreut,

Und mich durch alle Dunkelheit

Zum Glück und Guten führt.


Es flieht vor ihrem hellen Blick

Der Thorheit flüchtig Schattenglück,

Manch farbigt Luftgesicht,

Sie sieht, trotz seiner Mummerey,

Daß alles, alles eitel sey,

Allein die Tugend nicht.

Fußnoten

1 Wenn es dem deutschen Herrn Uebersetzer der Clarissa beliebet hätte, dieses Stück deutsch einzukleiden: so würde eine neue Uebersetzung gewiß unnöthig geworden, und diese starke Ode auch im Deutschen stark geblieben seyn. Die gegenwärtige Uebersetzung hat Abweichungen und schwache Stellen; zugleich aber das Verdienst, daß sie, wegen genauer Beybehaltung des englischen Silbenmaaßes, nach der dem Originale [Original 1757a] beygedruckten Composition gesungen werden kann, welches den Liebhabern der Clarissa nicht unangenehm seyn wird.


Quelle:
Johann Peter Uz: Sämtliche poetische Werke, Stuttgart 1890, S. 141-145.
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