25. Kapitel

Frau und Kind im Sozialismus

[204] Die Persönlichkeit Edith Leetes hatte natürlich von dem Augenblick an einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, wo ich auf so wunderbare Weise ein Gast ihres elterlichen Hauses geworden war. Es stand zu erwarten, daß sich meine Gedanken nach den Vorgängen des vorigen Abends noch mehr als bisher mit ihr beschäftigen würden. Von Anfang an war mir an[204] ihr die heitere Offenheit und treuherzige Aufrichtigkeit ihres Charakters aufgefallen, die sie mehr einem edlen, unverdorbenen Jüngling gleichen ließ als irgendeinem Mädchen, das ich je gekannt hatte. Es interessierte mich, zu erfahren, wie weit diese schönen Eigenschaften ihr persönlich eigentümlich waren, und inwieweit sie möglicherweise als Folge von Veränderungen angesprochen werden mußten, die sich seit meiner Zeit in der sozialen Stellung der Frau vollzogen haben konnten. Als ich im Laufe des Tages mit Doktor Leete allein war und sich eine passende Gelegenheit bot, lenkte ich daher unser Gespräch auf dieses Thema.

»Da die Frauen heutzutage von der Last der Haushaltung befreit sind«, sagte ich, »so vermute ich, daß sie nichts anderes zu tun haben, als der Pflege ihrer Schönheit und Anmut zu leben.«

»Was uns Männer anbelangt«, erwiderte Doktor Leete, »so wären wir allerdings der Ansicht, daß die Frauen – um mich eines Ausdrucks zu bedienen, der in Ihrer Zeit geläufig war – ›reichlich für ihren Unterhalt bezahlt machen würden‹, wenn sie nichts anderes als das täten. Sie können jedoch fest davon überzeugt sein, daß unsere Frauen viel zu viel Stolz besitzen, als daß sie es ertragen könnten, von der Gesellschaft bloß dafür unterhalten zu werden, daß sie ihr zur Zierde gereichen. Gewiß begrüßten sie es mit hoher Freude, daß sie der Hausarbeit enthoben wurden. War diese doch nicht nur an und für sich ungemein lästig, sondern auch, verglichen mit dem modernen Großbetrieb, eine ungeheure Kraftvergeudung. Allein sie nahmen ihre Befreiung von der Tätigkeit im Hause nur an, um in anderer, erfolgreicherer und angenehmerer Weise für das Gemeinwohl mitzuarbeiten. Unsere Frauen gehören ebenso wie unsere Männer dem Arbeitsheere an und treten aus diesem nur aus, wenn sie Mutterpflichten zu erfüllen haben. So kommt es, daß die meisten Frauen während der einen oder anderen Zeit ihres Lebens etwa fünf, zehn oder fünfzehn Jahre dienen, die Kinderlosen dagegen ihrer vollen Dienstpflicht genügen.«

»Die Frau, die heiratet, tritt also nicht notwendigerweise aus dem Arbeitsheer aus?« fragte ich weiter.

»Gerade so wenig wie der Mann«, versetzte der Doktor. »Warum in aller Welt sollte sie es denn tun? Wie Sie wissen, liegen den verheirateten[205] Frauen nicht länger Haushaltspflichten ob, und der Mann ist doch nicht ein kleines Kind, das gewartet werden müßte.«

»Es galt für einen der beklagenswertesten Umstände unserer Zivilisation«, sagte ich, »daß wir den Frauen so viel Arbeit aufbürden mußten. Wie mir scheint, nützen Sie diese jedoch noch mehr aus als wir.«

Doktor Leete lachte. »Das tun wir tatsächlich, geradeso wie wir auch die Männer noch mehr ausnützen. Trotzdem sind die Frauen unserer Zeit sehr glücklich, während die Frauen des neunzehnten Jahrhunderts sehr unglücklich waren, es sei denn, daß die Zeugnisse Ihrer Zeitgenossen uns darüber gründlich irreführen. Es hat seinen triftigen Grund, daß die Frauen heutzutage so viel tüchtigere und erfolgreichere Mitarbeiterinnen der Männer und gleichzeitig so glücklich sind. Für ihre Arbeit gilt wie für die der Männer auch der Grundsatz, jedem Menschen die Tätigkeit zuzuweisen, für die er am geeignetsten ist. So tragen denn die den Frauen vorbehaltenen Beschäftigungsarten und die Bedingungen, unter denen sie diesen nachgehen, zwei Tatsachen Rechnung: daß die Frauen den Männern an Kraft nachstehen, und daß sie sich auch in manchen anderen Beziehungen für den Betrieb gewisser Gewerbe nicht eignen. Die schweren Arbeiten werden überall den Männern, die leichteren den Frauen vorbehalten. Unter keinerlei Umständen dürfen die Frauen einer Beschäftigung nachgehen, die nicht nach Art wie Maß der Arbeit vollkommen ihrem Geschlecht entspricht. Außerdem ist der Arbeitstag der Frauen beträchtlich kürzer als jener der Männer, sie erhalten öfter Ferien als diese, und es sind alle Vorkehrungen getroffen, damit sie ausruhen können, so oft dies nötig ist. Die Männer unserer Zeit verstehen sehr wohl zu würdigen, daß sie der Schönheit und Anmut der Frauen den Hauptreiz ihres Lebens und den mächtigsten Antrieb zur Anspannung all ihrer Kräfte verdanken. Sie lassen sie daher nur zufolge der klaren Erkenntnis arbeiten, daß in der Zeit der größten körperlichen Rüstigkeit ein gewisses Maß regelmäßiger, den Fähigkeiten zusagender Arbeit auf Leib und Seele wohltätig wirkt. Blühende Gesundheit unterscheidet unsere Frauen von denen Ihrer Zeit, die im allgemeinen kränklich gewesen zu sein scheinen. Sie ist sicherlich zum großen Teile dem Umstand zuzuschreiben, daß ihnen allen ohne Unterschied eine gesunde und anregende Tätigkeit angewiesen wird.«[206]

»Wenn ich Sie recht verstanden habe«, sagte ich, »so gehören auch die Frauen dem Arbeitsheere an. Wie können sie jedoch der nämlichen Leitung und Disziplin unterstehen, wenn sie unter so ganz anderen Bedingungen als die Männer arbeiten?«

»Sie unterstehen auch einer ganz anderen Leitung«, erwiderte Doktor Leete, »und bilden eher eine Art Hilfstruppe als einen integrierenden Teil des Heeres der Männer. Eine Frau führt den Oberbefehl über diese Truppe, und Frauen bekleiden darin sämtliche Offizierstellen. Sie erinnern sich wohl der Art und Weise, wie die höheren Offiziere des Arbeitsheeres der Männer und der Präsident der Vereinigten Staaten gewählt werden. Genau so erwählt die Gesamtheit aller Frauen, die ihrer Dienstpflicht genügt haben, die Oberbefehlshaberin des Frauenheeres sowie alle weiblichen Betriebsbeamten. Die Oberbefehlshaberin hat ihren Sitz im Kabinett des Präsidenten; bei allen die Frauenarbeit betreffenden Maßregeln kann sie ein Veto einlegen, das in Kraft bleibt, bis die schwebende Angelegenheit durch einen Kongreß entschieden worden ist. Als ich von unserem Gerichtswesen sprach, hätte ich erwähnen sollen, daß bei uns sowohl Männer wie Frauen als Richter fungieren, und daß die letzteren von der Oberbefehlshaberin des Arbeitsheeres der Frauen zu ihrem Posten ernannt werden. Streitfälle, in denen beide Parteien Frauen sind, werden von Richterinnen abgeurteilt; stehen sich dagegen ein Mann und eine Frau als Kläger und Verklagte gegenüber, so werden sowohl ein Richter als eine Richterin zur Untersuchung und Urteilssprechung herangezogen.«

»Die Frauenwelt scheint innerhalb Ihrer Gesellschaft wie ein Staat im Staate organisiert zu sein«, sagte ich.

»In gewissem Sinne und bis zu einem gewissen Grade allerdings«, entgegnete Doktor Leete. »Aber Sie werden zugeben, daß dieser Staat im Staate kein solcher ist, der die Nation mit Gefahr bedroht. Zu den zahllosen Mängeln Ihrer Gesellschaftsordnung gehörte unter anderem auch, daß sie jeglicher Einrichtung entbehrte, die die verschiedene Eigenart der Geschlechter anerkannte und ihr gerecht wurde. Die leidenschaftlichen Gefühle, die den Mann zur Frau, die Frau zum Manne ziehen, haben nur zu oft verhindert, daß die tiefe Verschiedenheit erkannt wurde, die die[207] Angehörigen der beiden Geschlechter in vielen Beziehungen voneinander trennt und sie nur mit Angehörigen ihres eigenen Geschlechts sympathisieren läßt. Die Freude, die Männer und Frauen an sich selbst empfinden, und der Reiz, den sie füreinander besitzen, sind eher dadurch erhöht worden, daß man den Verschiedenartigkeiten der Geschlechter freien Spielraum läßt und nicht versucht, sie zu verwischen. Darauf lief aber offenbar das Bestreben mancher Reformer in Ihrer Zeit hinaus. Damals stand den Frauen keine Laufbahn offen, in der sie nicht in unnatürlichen Wettbewerb mit den Männern geraten wären. Wir haben ihnen eine eigene Welt geöffnet, wo sie ihren eigenen Wetteifer und Ehrgeiz entfalten, wo sie ihre eigenen Bahnen gehen können. Ich kann Sie versichern, daß unsere Frauen in dieser ihrer Welt sehr glücklich sind. Uns scheint es, daß die Frauen mehr als irgendeine andere Klasse der Bevölkerung die Opfer Ihrer Zivilisation waren. Sogar jetzt noch, wo diese Zustände so weit hinter uns liegen, werden wir auf das tiefste ergriffen, wenn wir uns das eintönige, verkümmerte Leben der Frauen vergegenwärtigen, das in der Ehe vollends verkrüppelte. Wie beschränkt war ihr Horizont, der nur zu oft im buchstäblichen Sinne des Wortes durch die vier Wände des Hauses begrenzt wurde, moralisch aber nicht über einen engen Kreis persönlicher Interessen hinausging. Und wohlgemerkt, ich spreche jetzt nicht einmal von den Frauen der ärmeren Klasse, die sich gewöhnlich zu Tode arbeiten mußten, sondern von den wohlhabenden, ja reichen Frauen. Von den großen Sorgen und kleinen Verdrießlichkeiten des Lebens konnten sie sich nicht in eine freiere Außenwelt allgemein menschlicher Angelegenheiten retten. Sie kannten auch keine anderen Interessen als die der Familie. Solch eine Existenz hätte den Männern Gehirnerweichung beschert oder sie verrückt gemacht. Das ist jetzt alles anders. Heutzutage äußert keine Frau mehr das Verlangen, lieber ein Mann zu sein, keine Eltern den Wunsch, einen Knaben zu bekommen und nicht ein Mädchen. Unsere Mädchen betätigen ebensoviel Ehrgeiz für ihre Laufbahn wie unsere jungen Männer. Die Ehe bedeutet für sie keine Abschließung, keine Einkerkerung, sie trennt sie in keiner Weise von den großen Interessen der Gesellschaft und dem Leben und Treiben der Welt. Nur wenn die Mutterschaft den Geist der Frau mit neuen Interessen erfüllt, zieht sie[208] sich eine Zeitlang zurück. Später und zu jeder Zeit kann sie ihren Platz unter ihren Gefährtinnen wieder einnehmen, und sie braucht niemals die Fühlung mit ihnen zu verlieren. Verglichen mit der Stellung, die die Frauen früher in der Gesellschaft aller Zeiten eingenommen haben, sind sie jetzt ein sehr glückliches Geschlecht, und ihre Fähigkeit, die Männer zu beglücken, hat natürlich in demselben Maße zugenommen.«

»Ich würde es nicht für ausgeschlossen halten«, sagte ich, »daß die Mädchen bei Ihnen vom Heiraten abgehalten werden. Ihr Interesse für ihre Tätigkeit im Arbeitsheere und für die winkenden Auszeichnungen und Ehrenämter könnte dahin wirken.«

Doktor Leete lächelte. »Fürchten Sie das nicht, Herr West«, sagte er. »Der Schöpfer hat es fürsorglich so eingerichtet, daß wie immer sich auch die Neigungen der Männer und Frauen mit der Zeit verändern mögen, doch die Anziehung bestehen bleibt, die beide aufeinander ausüben. Ist der beste Beweis dafür nicht die Tatsache, daß man sogar in einem Zeitalter wie dem Ihrigen freite und sich freien ließ? Und doch muß damals der Kampf ums Dasein den Leuten nur wenig Zeit für andere Gedanken übriggelassen haben. Ja, die Zukunft war so unsicher, daß es ganz gewiß oft als verbrecherisches Wagnis erschien, Elternpflichten auf sich zu nehmen. Von der heutigen Liebe sagt einer unserer Schriftsteller, daß diese Leidenschaft den leeren Raum ausfülle, der in der Seele der Männer und Frauen durch die Beseitigung der Existenzsorgen entstanden sei. Diese Behauptung ist jedoch etwas übertrieben, das dürfen Sie glauben. Im übrigen sind Verheiratung und Ehe so weit davon entfernt, ein Hemmnis für die Berufstätigkeit der Frau zu sein, daß die höheren Ehrenstellen im weiblichen Arbeitsheere nur Frauen anvertraut werden, die sowohl Gattinnen als Mütter gewesen sind, da nur sie als vollwertige Vertreterinnen ihres Geschlechts gelten.«

»Erhalten die Frauen ebenso wie die Männer Kreditkarten?«

»Sicherlich.«

»Da die Frauen infolge ihrer Mutterpflichten ihre Arbeit häufig unterbrechen müssen, lautet wohl die Kreditkarte auf geringere Summen?« fragte ich weiter.[209]

»Auf geringere Summen!« rief Doktor Leete aus. »O nein! Alle Glieder unserer Gesellschaft erhalten die gleichen Unterhaltsmittel. Diese Regel erleidet keine Ausnahme. Sollte aber wegen der von Ihnen angedeuteten Unterbrechungen in der Berufstätigkeit der Frau ein Unterschied zwischen ihrem Einkommen und dem des Mannes gemacht werden, so müßte man den Kredit der Mütter vergrößern und nicht verkleinern. Können Sie sich einen Dienst denken, der einen größeren, berechtigteren Anspruch auf die Dankbarkeit der Nation hat, als das Gebären und Nähren ihrer Kinder? Nach unserer Ansicht macht sich niemand so um die Welt verdient wie gute Eltern. Die Erziehung der Kinder, die dereinst, wenn wir zu Staub zerfallen sind, die Welt bedeuten werden, ist die selbstloseste aller Aufgaben. Sie ist die einzige, die ohne jede Vergeltung bleibt, die Befriedigung natürlich nicht mitgerechnet, die unser Herz bei ihrer Erfüllung empfindet.«

»Was Sie mir gesagt haben, legt mir einen Schluß nahe. Nämlich daß die Frauen für ihren Unterhalt in keinerlei Weise von ihren Gatten abhängen.«

»Natürlich nicht«, versetzte Doktor Leete. »Und ebensowenig sind die Kinder von ihren Eltern abhängig, das heißt was ihren Unterhalt anbelangt, denn selbstverständlich bleiben sie mit ihnen durch die tausenderlei Liebesdienste der Pflege und Erziehung verbunden. Wenn das Kind herangewachsen ist, so wird es durch seine Arbeit das Gut der Allgemeinheit und nicht das der Eltern mehren, die vielleicht schon gestorben sind. Es ist deshalb nur recht und billig, daß es auch aus dem Nationalgut ernährt wird. Sie müssen nämlich wissen, daß die Abrechnung für den Unterhalt jeder Person, sei es Mann, Frau oder Kind, unmittelbar mit der Nation erfolgt und nie mit irgendwelcher Zwischenperson; nur die Eltern handeln selbstverständlich bis zu einem gewissen Grade als Vormünder ihrer Kinder. Sie sehen also, daß das Recht der einzelnen auf ihren Lebensunterhalt in ihrem Verhältnis zur Nation wurzelt. Es ist lediglich darin begründet, daß sie Glieder der Nation sind, und hat ganz und gar nichts mit ihren Beziehungen zu anderen Personen zu schaffen, die gleich ihnen Glieder der Nation sind. Daß jemand für seinen Lebensunterhalt von einem anderen abhängen sollte, würde im[210] höchsten Grade das moralische Gefühl verletzen und von keiner vernünftigen Gesellschaftstheorie zu rechtfertigen sein. Was müßte bei einer solchen Abhängigkeit aus der persönlichen Würde und Freiheit werden? Ich weiß wohl, daß Sie sich im neunzehnten Jahrhundert frei nannten. Dieses Wort muß aber damals eine ganz andere Bedeutung als jetzt gehabt haben. Wie hätte es sonst in einer Gesellschaft angewendet werden können, in der fast jedes Mitglied für die notwendigsten Existenzmittel auf andere angewiesen war und dadurch in bittere persönliche Abhängigkeit von ihnen geriet. Die Armen waren von den Reichen abhängig, die Arbeiter von den Unternehmern, die Frauen von den Männern, die Kinder von den Eltern. Es hätte als das Natürlichste und Nächstliegende erscheinen müssen, daß alles, was die Nation erzeugte, unmittelbar an ihre Glieder verteilt wurde. Wir erhalten jedoch heutzutage den Eindruck, daß Sie sich alle mögliche Mühe gegeben haben, um ein System der Verteilung von Hand zu Hand auszuklügeln, das für alle Empfänger das höchste Maß persönlicher Demütigung in sich schloß.

Gewiß mag die natürliche Zuneigung der Gatten füreinander bei Liebesheiraten die materielle Abhängigkeit der Frau vom Manne erträglich gemacht haben, die in Ihrer Zeit die Regel war. Allein sogar in diesem Falle wird sie nach meinem Empfinden für selbstbewußte Frauen noch demütigend genug geblieben sein. Wie drückend aber mußte sie in den schier unzähligen Fällen empfunden werden, wo die Frau gezwungen war, sich unter der Form der Ehe oder ohne diese Form zu verkaufen, um nur leben zu können? So unempfindlich auch Ihre Zeitgenossen gegen die empörendsten Mißstände der damaligen Gesellschaft waren, scheinen sie doch eine Ahnung davon gehabt zu haben, daß in der Lage der Frau nicht alles so wäre, wie es sein sollte. Freilich: über das Mitleid mit dem Los des weiblichen Geschlechts scheinen sie nicht hinausgekommen zu sein! Nie kam ihnen der Gedanke, daß sich die Männer sowohl eines Raubes wie einer Grausamkeit schuldig machten, wenn sie die gesamten Schätze der Welt an sich rissen und die Frauen um ihren Anteil daran bitten und betteln ließen. Aber, du lieber Himmel, Herr West! Ich rede mich da in einen Eifer hinein, als ob die Beraubung, die Leiden und die Schmach jener armen Frauen nicht schon seit einem Jahrhundert vorüber[211] wären, oder als ob Sie die Verantwortung für Zustände trügen, die Sie ohne Zweifel ebensosehr beklagten, wie ich es tue.«

»Ich muß meinen Teil der Verantwortlichkeit für die Welt tragen, so wie sie früher war«, sagte ich. »Ich kann auch keinen anderen Entschuldigungsgrund geltend machen, als daß eine durchgreifende Verbesserung des Geschickes der Frau unmöglich war, solange nicht die Nation die nötige Reife erlangt hatte, die neue Wirtschaftsordnung zu schaffen. Wie Sie selbst bemerkten, wurzelten die Gebundenheit, die Ohnmacht der Frau darin, daß sie für ihren Lebensunterhalt vom Manne abhängig war. Ich kann mir nicht denken, daß eine andere als Ihre Gesellschaftsordnung die Frau von der Herrschaft des Mannes befreit haben würde, wie sie gleichzeitig auch den Mann von der Herrschaft irgendeines anderen Mannes befreit hat. Ich vermute übrigens, daß ein so tiefgehender Umschwung in der Stellung der Frau sich nicht vollzogen haben kann, ohne daß dadurch auch der Verkehr der Geschlechter in ganz erheblicher Weise beeinflußt worden ist. Es wird sehr interessant für mich sein, das zu studieren.«

»Als hauptsächlichste Veränderung«, sagte Doktor Leete, »wird Ihnen, so meine ich, die völlige Freiheit und Ungezwungenheit auffallen, die jetzt den Verkehr zwischen Männern und Frauen auszeichnet. Sie steht in schroffem Gegensatz zu den verkünstelten und verschrobenen Formen, in denen er sich zu Ihrer Zeit bewegte. Männer und Frauen verkehren gegenwärtig durchaus unbefangen und als vollkommen Gleichstehende miteinander, sie freien einander nur aus Liebe. Die Tatsache, daß in Ihrer Zeit die Frauen für ihren Unterhalt auf die Männer angewiesen waren, machte sie damals in Wirklichkeit zu dem Teil, der bei der Ehe hauptsächlich gewann. Soweit wir auf Grund von Berichten aus jener Zeit urteilen können, scheint diese Tatsache in den unteren Klassen mit zynischer Offenheit anerkannt worden zu sein. In den feineren Kreisen ward sie dagegen durch ein ganzes System hergebrachter und verlogener Formen verhüllt, das gerade die entgegengesetzte Meinung erwecken sollte: nämlich, daß der Mann bei der Ehe hauptsächlich gewinne. Um diese konventionelle Lüge aufrechtzuerhalten, war es unerläßlich, daß der Mann stets die Rolle des Freiers spielte. Nichts hätte deshalb den[212] Anstand mehr verletzt, als wenn eine Frau ihre Zuneigung zu einem Manne verraten hätte, ehe dieser den Wunsch geäußert hatte, sie zu heiraten. In unseren Bibliotheken stehen tatsächlich Werke von Schriftstellern Ihrer Zeit, die eigens geschrieben worden sind, um die Frage zu erörtern, ob eine Frau unter irgendwelchen möglichen Umständen, ohne ihrem Geschlecht Unehre zu machen, unaufgefordert ihre Liebe gestehen dürfe. Das dünkt uns heutzutage höchst abgeschmackt und töricht, aber wir wissen recht gut, daß unter den damaligen Umständen dies Problem seine ernste Seite haben mochte. Durch das Geständnis ihrer Liebe forderte ja eine Frau den Mann tatsächlich auf, die Last ihres Unterhaltes auf sich zu nehmen. Man versteht daher, daß Stolz und Zartgefühl die Stimme des Herzens zum Schweigen bringen konnten. Wenn Sie erst unter meinen Zeitgenossen verkehren werden, Herr West, so müssen Sie darauf gefaßt sein, daß unsere jungen Leute Ihnen gerade über diese Dinge gar vielerlei Fragen vorlegen. Es ist ja natürlich, daß sie sich für diese Seite der alten Sitten und Gebräuche ganz besonders interessieren.«8

»Und so erklären also die jungen Mädchen des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Liebe?«

»Gewiß«, erwiderte Doktor Leete. »Sie haben nicht mehr Grund als liebende Männer, ihre Gefühle zu verbergen. Koketterie würde bei einer Frau ebenso verächtlich sein wie« bei einem Manne. Gespielte Kälte, die zu Ihrer Zeit nur selten einen Liebenden täuschte, würde ihn heutzutage völlig irreführen, denn niemand denkt daran, zu heucheln.«

»Eine notwendige Folge davon, daß die Frauen unabhängig geworden sind, erkenne ich selbst«, sagte ich. »Heutzutage kann es nur noch Ehen aus Liebe geben.«

»Das ist selbstverständlich«, erwiderte Doktor Leete.

»Welch eine Welt, in der es nichts als reine Liebesehen gibt!« rief ich[213] aus. »Ach, Doktor Leete, es muß Ihnen schlechterdings unmöglich sein, nachzuempfinden, wie erstaunlich eine solche Welt einem Kinde des neunzehnten Jahrhunderts erscheint.«

»Ich kann mir das einigermaßen vorstellen«, versetzte der Doktor. »Aber die von Ihnen gepriesene Tatsache besitzt eine viel größere Tragweite, als Sie sich im ersten Augenblick vergegenwärtigen. Sie bedeutet, daß zum erstenmal, seit es eine Geschichte der Menschheit gibt, das Prinzip der geschlechtlichen Auslese sich ungehindert durchsetzen kann, mit seiner Wirkung, die besseren Typen der Gattung zu erhalten und fortzupflanzen und die schlechteren aussterben zu lassen. Weder die Armut mit ihren Bedrängnissen, noch die Sehnsucht nach einem Heim führten heute die Frauen in Versuchung, als Väter ihrer Kinder Männer zu wählen, die sie nicht lieben und achten können. Reichtum und Rang lenken nicht länger die Aufmerksamkeit von den persönlichen Eigenschaften ab. Nicht mehr ›vergoldet Geld des Narren enge Stirn‹. Die Vorzüge des Körpers, des Geistes und Charakters, wie Schönheit, Klugheit, Witz, Beredsamkeit, künstlerisches Talent, Mut, gehen nicht verloren, sie sind der Vererbung auf die Nachkommenschaft sicher. Jede Generation wird sozusagen durch ein feineres Sieb gesichtet als die vorausgehende. Die Eigenschaften, die wir bewundern, bleiben erhalten, solche dagegen, die uns abstoßen, werden ausgemerzt. Es gibt natürlich viele Frauen, bei denen die Liebe für einen Mann Hand in Hand mit der Bewunderung für ihn gehen muß, und die nach einer glänzenden Ehe trachten. Aber auch für diese Frauen bleibt die allgemeine Regel der Liebesehe in Kraft. Denn eine glänzende Ehe eingehen, bedeutet jetzt nicht mehr, sich einem Manne mit Geld oder Titeln vermählen, sondern jemand, der sich durch seine tüchtigen oder bewundernswerten Leistungen im Dienste der Menschheit über seine Mitbürger erhoben hat. Solche Leute bilden heutzutage die einzige Aristokratie, mit der eine Verbindung eine Auszeichnung ist.

Sie sprachen vor etlichen Tagen davon, daß unser Volk an körperlichen Vorzügen Ihren Zeitgenossen überlegen sei. Wichtiger als alle die von mir damals erwähnten Ursachen zur Veredlung der Gattung ist vielleicht der Einfluß gewesen, den die durch nichts beeinträchtigte geschlechtliche Auslese auf die Hebung der zwei oder drei letzten Generationen[214] ausgeübt hat. Ich bin überzeugt, daß eine längere Beobachtung meiner Zeitgenossen Ihnen zeigen wird, daß sie sich nicht bloß körperlich, sondern auch geistig und moralisch veredelt haben. Es würde seltsam sein, wenn dem anders wäre. Eines der großen Naturgesetze wirkt ja jetzt frei und ungehindert zum Heil der Menschheit, und es wird noch unterstützt durch eine starkgewurzelte Moral. Zu Ihrer Zeit beherrschte der Individualismus die Gesellschaft und ertötete nicht nur jedes wärmere Gefühl der Brüderlichkeit und Interessengemeinschaft zwischen den Lebenden, sondern ließ obendrein kein Bewußtsein der Verantwortlichkeit einer Generation für das ihr folgende Geschlecht aufkommen. Noch nie vorher hat sich das Bewußtsein dieser Verantwortlichkeit machtvoll und allgemein durchgesetzt. Heutzutage ist es eine der großen ethischen Ideen geworden, die die Menschheit leiten. Den natürlichen Trieb, die besten und vollkommensten des anderen Geschlechts zur Ehe zu wählen, verstärkt es durch die tiefe Überzeugung, daß dies Pflicht gegen die kommenden Geschlechter sei. Kein einziges der Mittel, durch die wir Fleiß, Talent, Genie und jegliche Tüchtigkeit zu ermutigen und anzufeuern pflegen, wirkt auf unsere jungen Männer auch nur annähernd so stark wie die Tatsache, daß unsere Frauen als Richterinnen der Gattung über ihnen thronen und sich vorbehalten, die Sieger durch ihre eigene Person zu belohnen. Kein Sporn und Preis wirkt gleich aneifernd wie der Gedanke, daß kein strahlendes Frauenantlitz dem Trägen und Unfähigen zulächeln wird. Zu Hagestolzen werden heutzutage fast ausnahmslos nur Männer, denen es nicht gelungen ist, ihre Lebensaufgabe mit Ehren zu erfüllen. Die Frau muß Mut besitzen, und zwar obendrein eine sehr traurige Art von Mut, die sich durch Mitleid dazu bewegen läßt, einen dieser Unglücklichen zum Gatten zu nehmen. Sie stellt sich in schärfsten Gegensatz zu der öffentlichen Meinung, denn im übrigen ist sie ja vollständig frei. Ich muß hinzufügen, daß in dieser Beziehung nichts unwiderstehlicher und zwingender auf sie wirkt als das Urteil ihrer eigenen Geschlechtsgenossinnen. Und das ist strenger als das der Männer. Unsere Frauen sind sich voll der Verantwortlichkeit bewußt, die sie als Hüterinnen der kommenden Welt tragen, denen die Schlüssel der Zukunft anvertraut sind. Ihr Pflichtgefühl grenzt in dieser Beziehung an religiöses[215] Empfinden. Wie in einer Religion erziehen sie ihre Töchter von Kindheit an in dem Gefühl ihrer Verantwortlichkeit gegen die Ungeborenen.«

An jenem Abend blieb ich noch lange in meinem Zimmer wach und las einen Roman von Berrian, den mir Doktor Leete gegeben hatte. Die Handlung drehte sich um eine Situation, in der die moderne Auffassung von der elterlichen Verantwortlichkeit zum Ausdruck gelangte, wie sie von Doktor Leete in seinen letzten Worten gekennzeichnet worden war. Ein Romanschriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts würde eine derartige Situation fast unfehlbar so behandelt haben, daß er im Leser eine krankhafte Sympathie mit der gefühlsseligen Selbstsucht der Liebenden erregt hätte und Groll gegen das ungeschriebene Gesetz, das sie verletzten. Ich brauche nicht näher zu schildern – denn wer hat nicht »Ruth Elton« gelesen! –, wie ganz anders Berrian den Gegenstand erfaßt und darstellt, und mit welch gewaltiger Wirkung er den Grundsatz einschärft: »Unsere Macht über die Ungeborenen ist der Gottes gleich, und unsere Verantwortlichkeit gegen sie ist so groß wie die seine gegen uns. So wie wir unsere Pflicht gegen sie erfüllen, möge er uns richten.«

8

Meine Erfahrungen haben durchaus bestätigt, was mir Doktor Leete vorausgesagt hatte. Die »Wunderlichkeiten des Hofmachens im neunzehnten Jahrhundert«, wie sie es nennen, sind für die jungen Leute und namentlich für die jungen Mädchen des zwanzigsten Jahrhunderts eine unerschöpfliche Quelle des Spottes und der Heiterkeit. (Julian West.)

Quelle:
Dietz Verlag, Berlin, 1949, S. 204-216.
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